Jeder muss sich um den Frieden kümmern
Politische, finanzielle und religiöse Interessen führen zu Konflikten wie in der Ukraine, im Nahen Osten, im Großteil Afrikas. Dass hier der Weg zum Frieden auch über jeden Einzelnen führt, ist Konfliktforscher Wolfgang Dietrich überzeugt.
Innsbruck – Die Welt freut sich mit Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai, aber wird der Preis wirklich langfristig etwas für das Projekt „Weltfrieden“ bringen?
Wolfgang Dietrich: Malalas Geschichte hat etwas Weihnachtliches. Deshalb freuen wir im Westen uns auch so. In ihrer Heimat Pakistan fühlen sich viele Menschen aber provoziert. Ich meine damit nicht nur fundamentalistische Taliban, die keine Skrupel haben, auf Kinder zu schießen. Ich habe auch viele Stimmen aus dem aufgeklärten Mittelstand Pakistans gehört, die meinen, Malala sei ein Produkt und Opfer ihrer ehrgeizigen Eltern. Die Leute können sich nicht vorstellen, dass ein sehr junges Mädchen in den Stammesgebieten aus eigenem Antrieb das macht, was Malala getan hat. Aber es geht auch um den Friedensnobelpreis selbst. Wir verstehen ihn wie eine olympische Disziplin. Die Vorstellung eines jahresbesten Friedensaktivisten gehört ihrem Charakter nach ins 19. Jahrhundert und wird unserer Zeit nicht gerecht. Daher glaube ich nicht, dass Malalas Preis langfristig etwas verändert. Das liegt aber nicht an Malala, sondern am Charakter des Preises.
Sind wir beim Thema Frieden nicht zu blauäugig? Wir träumen vom Weltfrieden und wissen aber eigentlich gar nichts über das, was sich hinter den politischen Kulissen abspielt.
Dietrich: Wir mögen über Details nicht informiert sein, aber in groben Zügen wissen wir schon, was da passiert. Die Entscheidungsträger sind Menschen, die sich in ihren Tugenden und Schwächen nicht von anderen unterscheiden. Zumindest die Friedens- und Konfliktforschung hat das im Blick. Problematischer finde ich, dass die meisten Durchschnittsmenschen nicht den leisesten Schimmer haben, was sie selbst als Frieden verstehen, empfinden und verantworten. Weihnachten, das Friedensfest, belegt das mit seinen Familiendramen alle Jahre wieder auf tragisch-komische Art. Alle wollen Frieden, keiner weiß, was das ist. Deshalb wäre ich dafür, den Friedensnobelpreis an alle anderen Nobelpreise anzupassen. In Physik und Chemie etwa bekommen ihn immer wichtige Vordenker, die das Fach geistig erweitern. Wenn es um den Frieden geht, werden aber Aktivisten, Organisationen oder Initiativen ausgezeichnet, nicht Vordenker, die uns allen helfen, das komplexe Thema Frieden besser zu verstehen, handzuhaben und weiterzudenken.
Wie fallen Entscheidungen über Krieg oder Frieden? Welche Rolle spielen da finanzielle, religiöse, politische Interessen?
Dietrich: All das spielt in komplexen Zusammenhängen eine Rolle. Die Innsbrucker Schule der Friedensforschung hat dazu ein eigenes Modell der Konfliktanalyse entwickelt, das als „Elicitive Conflict Mapping“ bekannt ist, in dem das berücksichtigt und analysiert wird.
Sieht man sich die weltweiten Brennpunkte von heute an, erkennt man, dass sich Konflikte in bestimmten Regionen immer wieder wiederholen. Welche Chancen gibt es da, diesen Teufelskreis zu durchbrechen?
Dietrich: Gesellschaften benötigen nach schweren Gewalterfahrungen, wie wir im Nationalsozialismus, unter günstigen Bedingungen drei bis vier Generationen, um sich von dem Trauma zu erholen. Wenn diese Bedingungen nicht gegeben sind, ist der Rückfall in die Gewalt nach fünf bis sieben Jahren wahrscheinlich. Was heute in Syrien oder im Irak geschieht, wird sich noch in 100 Jahren auswirken. Dass Gewalt weitere Gewalt bewirkt, ist eine biblische Weisheit und eine wissenschaftliche ebenso. Wir Menschen wissen das seit einigen Jahrtausenden, gehen mit unserem Wissen aber fahrlässig um.
Wie kann man Friedensprojekte überhaupt vorantreiben?
Dietrich: Frieden ist beziehungshaft. Alles, was zu besseren Beziehungen zwischen Menschen führt, ist Friedensarbeit. Das beginnt in der Familie und endet in der hohen Politik.
Wird es jemals eine Welt geben, die (relativ) in Frieden lebt?
Dietrich: Wer auf einen Frieden in der Zukunft wartet, wartet vergeblich. Lassen Sie uns also da beginnen, wo wir es gestalten können. Schieben wir die Verantwortung für das eigene Verhalten nicht auf die „da oben“ oder „da draußen“ ab. Wenn das viele tun, ergibt sich der Rest von selbst. Ist das nicht die Weihnachtsbotschaft?
Und wir beginnen mit dem Friedensprojekt in den eigenen vier Wänden?
Dietrich: Das eigene Herz bietet eine überschaubare Übungsfläche. Fortgeschrittene mögen sich in die eigenen vier Wände wagen.
Das Interview führte Brigitte Warenski