Die Sehnsucht nach der Höhle
Lutz Seilers „Kruso“ zählte zu den bedeutendsten Büchern des vergangenen Jahres. Die TT hat den Autor getroffen und mit ihm über unbeugsame Stoffe, Gedichte als Heimathafen und Umwege zum Erfolg gesprochen.
Man könnte sagen, dass Hiddensee nicht nur der Schauplatz, sondern einer der Protagonisten ihres mittlerweile vielfach ausgezeichneten Buches „Kruso“ ist. Wann war Ihnen klar, dass Ihr Romandebüt ein Inselroman wird?
Lutz Seiler: Ich habe nicht vorgehabt, über die Insel zu schreiben. Ich hatte einen anderen Roman vor Augen – und scheiterte. Ich kniete auf dem Stoff, doch er wollte sich nicht fügen. Nach gut einem Jahr ringen mit dem Stoff habe ich aufgegeben. Da hatte ich von der Gattung Roman eigentlich Abschied genommen, dachte, dass das einfach nicht funktioniert und war bereit für die Rückkehr in den Heimathafen der Gedichte.
Aber entstanden ist doch ein Roman ...
Seiler: Ich war deprimiert, ein Schriftsteller, der nicht schreibt, ist nichts wert – vor allem für sich selbst nicht. Irgendwann meinte meine Frau, ich sollte doch wenigsten ein paar Seiten, eine Erzählung vielleicht, über den Hiddensee-Stoff schreiben. Das war ursprünglich ein ganz kurzes Erinnerungskapitel im gescheiterten Roman. Aber plötzlich gab es da ein paar starke Bilder, denen ich vertrauen konnte. Ausgehend davon bin ich dann durch den Stoff marschiert.
Wie Ihr Romanheld Ed waren auch Sie Ende der 1980er-Jahre Saisonkraft auf der Insel.
Seiler: Im Sommer 1988 und 1989 war ich einige Monate Abwascher im Inselrestaurant Klausner. Diesen authentischen Erfahrungshintergrund gibt es, ja. Aber mein Roman ist keine Rekonstruktion dieser Zeit, sondern Literatur. Deshalb ist mir auch die Zuschreibung „Wende-Roman“ etwas suspekt. Für mich ist „Kruso“ ein Abenteuerroman.
War Hiddensee tatsächlich der beinahe surreale Sehnsuchtsort, der es ermöglichte, „die DDR zu verlassen, ohne eine Grenze zu überschreiten“, wie es im Roman an einer Stelle heißt?
Seiler: Einen Sonderstatus gab es tatsächlich. Die Insel war ein Ort, der Aussteiger und Ausgestoßene anzog. Aber es gab auch das andere Extrem: maximale Überwachung. Der Klausner und die Kaserne waren keine 50 Meter entfernt. Letztlich war es dieses absurde Nebeneinander von Freiraum und Kontrolle: Sobald die Sonne unterging, sind die Grenzer losgezogen und haben mit Fahrrad und Maschinengewehr den Strand abgesucht. Hielt man sich abends dort auf, galt man als „Grenzverletzer mit Fluchtabsicht“.
Gerade im Epilog des Romans wird die Auseinandersetzung mit dem Thema Flucht besonders konkret. Tonfall und Erzählperspektive ändern sich. Ich würde diesem Teil des Buches durchaus eine dokumentarische Qualität zuschreiben.
Seiler: Während der Arbeit an „Kruso“ fiel mir ein Interview mit dem ehemaligen Hafenmeister der Insel Møn in die Hände, der vom Schicksal der namenlosen Seeflüchtlinge sprach. Da dachte ich noch nicht wirklich an eine Recherche in diese Richtung, aber es war wie ein Keim, der in mir weiterarbeitete. Ich wollte herausfinden, was mit den Leichen, die aus dem Wasser geholt oder angespült wurden, geworden ist. Tatsächlich ist dieser Teil des Buches sehr nah an der Wirklichkeit. Auch weil mir dieses Thema zu schwer und zu ernst ist, um daraus irgendetwas zu erfinden.
Einer der Gründe, die Ed nach Hiddensee treiben, ist die Beschäftigung mit Georg Trakl. Spielt Trakl auch für Ihr Schreiben eine Rolle.
Seiler: Die Entdeckung Trakls war für mich eine Art Initiation. Ich habe während des Grundwehrdienstes begonnen, viel zu lesen, ganz planlos und alles durcheinander. Ich war gelernter Baufacharbeiter und habe als Maurer gearbeitet. In dieser Zeit beschloss ich, etwas mit Literatur studieren zu wollen. Und in einem der ersten Seminare lasen wir den „Herbst des Einsamen“ und „Grodek“ von Trakl. Ich war überwältigt. Auch weil ich ihn gewissermaßen ganz unbelastet las. Begriffe wie Expressionismus sagten mir nichts, ich spürte nur diese ganz unvermittelte, direkte Kraft. Seither hat Georg Trakls Dichtung für mich sicherlich die Funktion eines Wegweisers.
Diese wegweisende Kraft der Dichtung spielt auch in „Kruso“ eine Rolle.
Seiler: Sie ist für mich ein Zeichen von Jugendlichkeit, Übermut und Emotionalität. Dieser Zustand, in dem ein einzelner Vers die ganze Welt bedeuten kann, ein Gedicht das Wichtigste ist, das es gibt und Poesie ein widerständischer Kampfbegriff ist. Voraussetzung dafür ist freilich, dass eine grundsätzliche Emphase für Literatur vorhanden ist. Manche trifft es nie.
Ihr Werdegang in den vergangenen Jahren ist beeindruckend: Ein gefeierter Lyriker, der mit seiner ersten längeren Erzählung „Turksib“ den Ingeborg-Bachmann-Preis gewinnt und mit seinem ersten Roman den deutschen Buchpreis.
Seiler: So etwas kann man natürlich nicht planen. Ein gutes Stück Literatur kann nur gelingen, wenn man mit der Unbedingtheit, die einem eingeschrieben ist und mit der man zum Schreiben gekommen ist, am Werk ist. Man kann nur das gut machen, das man wirklich auf der Pfanne hat. Schreiben, um andere zu beeindrucken oder ein bestimmtes Marktsegment zu bedienen, geht literarisch schief. Bei mir jedenfalls.
Was sagt der aktuelle Träger des deutschen Buchpreises zur Kontroverse um diese Auszeichnung? Marlene Streeruwitz etwa beschrieb den Preis als „Vernichtung des Literarischen zu Gunsten der Vermarktung“.
Seiler: Zunächst sollte man nicht vergessen, dass niemand zur Teilnahme am Buchpreis gezwungen wird. Aber ganz grundsätzlich glaub ich, dass es zu den schwierigsten und wichtigsten Aufgaben eines Autors gehört, zwischen dem, was im Betrieb passiert, und dem, was man ist, was man denkt und was man machen will, unterscheiden zu können. Das Schreiben muss immerzu beschützt werden – und der Betrieb folgt anderen Gesetzen. Man darf nicht das Gelingen der eigenen Existenz vom Lob oder Tadel des Betriebs abhängig machen. Jeder Autor ist darum bemüht, dass seine Bücher angenommen werden, aber genauso wichtig ist es, dass sich der Schreibende darum bemüht, vom Betrieb relativ unbeschadet in die eigene Schreibhöhle zurückzukehren.
Heißt das, dass der Betrieb dem Autor eine bestimmte Rolle abverlangt?
Seiler: Nein, aber es ist Arbeit. Arbeit, die auf das Schreiben keine Rückkoppelung haben sollte. Aber man muss es als Arbeit annehmen, sonst ist man immerzu persönlich betroffen und will nach zwei Auftritten zurück in die Höhle.
Apropos Höhle: Entsteht dort ein weiterer Roman, oder zieht es Sie zurück zur Lyrik?
Seiler: Im Moment überwiegt die Lust, noch einen Roman zu schreiben, auch weil dieser an „Kruso“ anschließen wird.
Das heißt, Betrieb und Leser dürfen sich über eine Fortsetzung Ihres Erfolgsbuches freuen?
Seiler: Fortsetzung ist vielleicht zu viel gesagt. Es ist so, dass diese exotische Szene nach dem Fall der Mauer wie eine Wanderdüne von Hiddensee nach Berlin weitergezogen ist und dort im Prenzlauer Berg und in Mitte die ersten autonomen Kneipen gegründet hat. Das Berlin der Jahre 1990 bis 1993 wäre übrigens auch der Schauplatz für den Roman gewesen, an dem ich gescheitert bin. Aber jetzt gibt es ein Setting von Figuren und Ausgangspunkten, die mir Hoffnung machen, dass es dieses Mal klappen kann. Es ist so, als hätte mich der Stoff gezwungen, erst noch einen Schritt zurückzutreten. Ich musste offensichtlich die eine Geschichte erzählen, um die andere erzählen zu können.
Das Gespräch führte Joachim Leitner