Debatte um Wiedergutmachung

Historiker im Interview: „Athens Forderungen nicht grundlos“

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© TT / Thomas Böhm

Der deutsche Wissenschafter Hans Günter Hockerts erklärt, warum das Thema Reparationen zwischen Athen und Berlin nie klar geklärt wurde.

Athen – Muss Deutschland gegenüber Griechenland noch Milliardenrechnungen aus der NS-Zeit begleichen? Ein renommierter Historiker sieht da offene Fragen. Auch weil das Thema Reparationen nicht klar geklärt worden ist.

Der deutsche Historiker Hans Günter Hockerts ist etwas entsetzt über die schrillen Töne zwischen Athen und Berlin, über das Aufrechnen von Geschichte und Gegenwart. Im dpa-Interview erläutert der Experte für das Thema Reparationen und Wiedergutmachung nach 1945, warum einige Forderungen der griechischen Regierung ihre Berechtigung haben.

Aus Sicht der deutschen Bundesregierung ist das Kapitel deutsche Reparationszahlungen für den Ersten und Zweiten Weltkrieg abgeschlossen – wundert Sie die aktuelle Debatte?

Hockerts: Nein, weil aus Griechenland seit etwa 20 Jahren immer wieder Reparationsansprüche erhoben werden. Die Bundesregierung blockt diese regelmäßig ab - nicht zuletzt aus Angst vor einem Präzedenzfall. Schließlich waren rund 60 Staaten Kriegsgegner des Deutschen Reiches. Wenn man an einer Stelle einen Rechtsanspruch anerkennt, kann eine Kettenreaktion in Gang kommen.

Es geht in der Debatte vieles durcheinander – welche Arten von finanziellen Forderungen und Vereinbarungen sind hier wichtig?

Hockerts: Die Sache wird klarer, wenn man drei Kategorien unterscheidet: Erstens Reparationen. Zweitens Entschädigungen für spezifisches NS-Unrecht. Diese Kategorie wurde geschaffen, um Sonderabkommen jenseits der Reparationen zu ermöglichen, nachdem das Londoner Schuldenabkommen von 1953 weitere Reparationen blockiert hatte. Drittens die Frage von Besatzungskrediten.

Um den dritten Punkt aufzugreifen, Griechenland will elf Milliarden Euro wegen eines Besatzungskredits von 1942. Zu Recht?

Hockerts: Von allen aktuellen Forderungen ist diese am wenigsten unrealistisch. Das Deutsche Reich hat Griechenland bei Kriegsende eine „Besatzungsanleihe“ von 476 Millionen Reichsmark geschuldet. Da Kredite zurückgezahlt werden müssen und das Londoner Schuldenabkommen 1953 diese Kategorie von Ansprüchen nicht eingeschränkt hat, kann es im Prinzip auch heute noch einen Rückzahlungsanspruch geben, jedenfalls dann, wenn man den Vorgang als vertragsrechtliche Anleihe interpretiert. Je mehr man – wie die Bundestagsfraktion Die Linke – den Zwangscharakter betont, um so mehr gerät man in die Nähe der Kategorie der Kriegsschäden und damit der Reparationen. Und die sieht die Bundesregierung als erledigt an.

Ist denn die Umrechnung auf 11 Milliarden Euro berechtigt?

Hockerts: Eine solide Studie hat vor einigen Jahren geschätzt, dass die besagte Besatzungsanleihe einer aktuellen Kaufkraft von rund 5 Milliarden Euro entspricht.

Daneben pocht Griechenland weiter auf Reparationen. Was hat Griechenland zunächst nach Ende des Weltkriegs gefordert?

Hockerts: Die Pariser Reparationskonferenz hat 1946 eine Interalliierte Reparationsagentur gegründet und die Teilnehmerstaaten aufgefordert, ihre „claims“ anzumelden. Die griechische Gesamtforderung belief sich auf knapp 14 Milliarden Dollar. Von der Reparationsagentur erhielt Griechenland aber nur Güter und Anlagen im Wert von rund 25 Millionen Dollar.

Das Schuldenabkommen von London hat dann 1953 alle weiteren Reparationsverhandlungen blockiert, was genau wurde vereinbart?

Hockerts: Der berühmt gewordene Artikel 5, Absatz 2 legte lediglich fest, dass eine Prüfung der aus dem Zweiten Weltkrieg herrührenden Forderungen „bis zur endgültigen Regelung der Reparationsfrage zurückgestellt“ wird. Intern definierten die Westmächte als Endtermin den Abschluss eines Friedensvertrags oder einer „ähnlichen Übereinkunft“.

Die Bundesregierung versuchte bis 1964 die Entschädigungsfrage durch Globalabkommen mit westeuropäischen Ländern zu regeln, waren damit die griechischen Forderungen nicht abgegolten?

Hockerts: Am 18. März 1960 wurde das Bonner Globalabkommen mit Griechenland unterzeichnet. Man einigte sich auf die Zahlung von 115 Millionen D-Mark. Die Verteilung blieb dem griechischen Parlament überlassen. Damals haben auch die Überlebenden beziehungsweise Angehörigen der Opfer der schrecklichen Massaker in Distomo und anderen Orten eine Entschädigung erhalten. Aber bei insgesamt 96 000 berechtigten Antragstellern reichten die Gelder nur für eine humanitäre Geste. Die griechische Seite behielt sich damals vor, „bei einer allgemeinen Prüfung gemäß Artikel 5 Abs. 2“ des Londoner Schuldenabkommens weitere Forderungen zu stellen.

Dann kam nach dem Mauerfall der berühmte 2+4-Vertrag mit den Siegermächten, mit dem Deutschland das Thema als erledigt ansah.

Hockerts: Ja, aber der 2+4-Vertrag ist kein Friedensvertrag im völkerrechtlichen Sinn. Das hat die Regierung Kohl aus zwei Gründen vermieden. Erstens wäre eine Friedenskonferenz ein zeitraubendes Mammutunternehmen gewesen - unter Beteiligung aller ehemaligen Kriegsgegner. Zweitens wäre die seit 1953 eingefrorene Reparationsfrage dann unweigerlich wieder aufgetaut worden. Stattdessen waren die vier Siegermächte bereit, die Reparationsfrage mit Schweigen zu übergehen, und dies in einem Vertrag, der eine „abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ traf.

Aber Griechenland war hier keine Vertragspartei...

Hockerts: Ob dies ein Vertrag zu Lasten Dritter war, der diese nicht bindet, oder aber ein „Statusvertrag“ mit Rechtswirkung auf Dritte, das ist eine Frage für Rechtsgelehrte. Griechenland hat im November 1990 die KSZE-Charta von Paris unterzeichnet, damit wurde der 2+4-Vertrag mit „großer Genugtuung zur Kenntnis“ genommen. Athen bestreitet, damit die Rechtswirkungen des Vertrags anerkannt zu haben. Die Sache wäre klarer, wenn Athen in puncto Reparationen gleich diplomatischen Protest erhoben hätte.

Erst 1995 folgte eine Verbalnote an die Bundesregierung, dass die Frage der Reparationen noch geklärt werden müsse.

Hockerts: Ja, aber die Sache hat einen Haken. Griechenland hat 1953 und 1960 anerkannt, dass weitere Forderungen nur „bei einer allgemeinen Prüfung gemäß Artikel 5 Abs. 2“ aktuell werden können, also bei einer multilateral gebündelten Abschlussregelung. Eine solche gab es aber nicht und wird es auch nicht geben. Dafür haben unter anderem die bilateralen Abkommen gesorgt, die Deutschland in den 1990er Jahren mit Polen, drei Nachfolgestaaten der Sowjetunion und den baltischen Staaten geschlossen hat. Die Athener Regierung kann keine „allgemeine Prüfung“ erzwingen. Und sie kann auch nicht im eigenen Land per Gerichtsurteil auf deutsches Staatseigentum zugreifen, das hat der Internationale Gerichtshof untersagt.

Was wäre ihr Vorschlag zur Beruhigung der Gemüter?

Hockerts: Ein deutsch-griechischer Zukunftsfonds nach dem Vorbild des deutsch-tschechischen Zukunftsfonds, der gezielt Projekte fördert, die die Menschen beider Länder zusammenführen. So käme man vielleicht aus dem schrecklich verkrampften Verhältnis heraus, in dem man nur Rechnung und Gegenrechnung kennt. Mag sein, dass die Finanzpolitiker das anders sehen, aber als Historiker würde ich mir eine andere Form „verhandelter Geschichte“ wünschen.

Das Gespräch führte Georg Ismar/dpa

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