Ausnahmezustand Frankreich - Jahre nach Unruhen Prozess um Ursache
Clichy-sous-Bois/Rennes (APA/dpa) - Brennende Autos, verwüstete Geschäfte, tausende Festnahmen - Ende 2005 glichen französische Gemeinden wo...
Clichy-sous-Bois/Rennes (APA/dpa) - Brennende Autos, verwüstete Geschäfte, tausende Festnahmen - Ende 2005 glichen französische Gemeinden wochenlang einem Kampfgebiet. Für die Ursache - den Unfalltod von zwei Jugendlichen - müssen sich erst jetzt zwei Polizisten verantworten.
Kaum Chancen auf Arbeit, alltägliche Ausgrenzung, Wut auf das System: Der geballte Frust junger Menschen überwiegend aus Migrantenfamilien zog 2005 eine Schneise der Verwüstung durch französische Vorstädte. „Wenn man ein Araber oder ein Schwarzer ist, ist es nicht leicht, Arbeit zu finden - auch wenn man über einen Hochschulabschluss verfügt“, beschrieb Azouz Begag, damals Minister für Chancengleichheit, in der „Zeit“ die Gefühlslage.
Auslöser der Empörung und Krawalle war der Unfalltod zweier Jugendlicher in Clichy-sous-Bois, einem Vorort nordöstlich von Paris. Auf der Flucht vor der Polizei waren Bouna Traore (15) und Zyed Benna (17) in einem Trafohäuschen durch Stromschläge ums Leben gekommen.
Von diesem Montag an - fast zehn Jahre nach dem Tod der Jugendlichen - müssen sich zwei Polizisten vor dem Strafgericht in Rennes wegen unterlassener Hilfeleistung verantworten. Sie sollen nichts dagegen unternommen haben, als sich die Jugendlichen in Todesgefahr brachten.
Viele junge Menschen in den Banlieues, vor allem in den von hoher Jugendarbeitslosigkeit, schlechter Infrastruktur, jeglicher Kriminalität und hohem Migrantenanteil geprägten Vorstädten von Paris, sahen das ähnlich. So wurde der tragische Tod der beiden Jugendlichen aus Einwandererfamilien aus dem Maghreb und aus Afrika zum Fanal für die Unruhen. In drei Wochen nächtlicher Randale waren rund 300 Gemeinden in ganz Frankreich betroffen.
Es brannten nicht nur Geschäfte, sondern auch Bibliotheken oder Sporteinrichtungen, die Jugendlichen als Anlaufpunkte gegen die Tristesse des Alltags dienen sollten. Vor allem wurden mehr als 9.000 Autos angezündet. Die Polizei, mit 126 verletzten Beamten immer wieder Gegner der Randalierer, nahm knapp 3.000 Jugendliche fest.
Der damalige Innenminister und spätere Präsident Nicolas Sarkozy wurde nicht nur wegen Notstandsrecht und Ausgangssperren kritisiert, auch seine Wortwahl soll die Konflikte angeheizt haben. Eine der Aussagen: Bei Krawallen wollte Sarkozy zum Hochdruckreiniger greifen und die Banlieues „mit dem Kärcher vom Gesindel befreien“.
Die gespannte Lage in den Problemvierteln hat sich kaum verändert. Bis heute gibt es immer wieder Berichte und Aussagen, wonach sich Polizei oder Feuerwehr nicht mehr - oder nur schwer ausgerüstet - in bestimmte Teile einschlägig bekannter Vororte wagen.
In Clichy-sous-Bois, einer Gemeinde mit rund 30.000 Einwohnern, bemühen sich Verantwortliche, das Image des von Problemen geplagten Krawallvororts loszuwerden. Das Departement Seine-Saint-Denis, zu dem auch Clichy-sous-Bois gehört, gilt aber weiter als Synonym für sozial benachteiligte Viertel. Das jährliche Durchschnittseinkommen liegt etwa ein Drittel unter der Pariser Großraumregion Ile-de-France.
Auf Jobsuche können Kandidaten von hier schlechte Chancen haben. Deswegen bieten Organisationen schon Wohnsitzanmeldungen in Paris an - Bewerber mit Adresse Seine-Saint-Denis werden angeblich schnell aussortiert. Eine Jugendbetreuerin fasste es mit Blick auf die französischen Grundwerte liberte, egalite, fraternite zusammen: „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit gelten nicht für jeden.“
Nach den Krawallen wurde ein Milliardenprogramm angekündigt. Wenige Jahre später zog die Zeitung „Liberation“ Bilanz: „Die Vermittler in den Stadtvierteln wurden abgeschafft, die Geldmittel gekürzt und die Sicherheit zur alleinigen Priorität erhoben.“
Das Projekt „Neues Großparis“ soll die Banlieues besser anbinden. Rund 27 Milliarden Euro will die Regierung bis 2030 in ein 200 Kilometer langes Netz aus Vorort-Metros investieren. Premierminister Manuel Valls hat „territoriale, soziale und ethnische Apartheid“ in den „Ghettos am Rande von Städten“ ausgemacht. Er will nun Reformen vorantreiben und Ungleichheit bekämpfen.
Auch in Clichy-sous-Bois wird nun zum Prozess nach Rennes geblickt. Der heute 19-jährige Schüler Malek hat die Unruhen noch als Kind erlebt. „Solange diese Angelegenheit nicht beendet ist, denken wir immer daran“, erzählt Malek France24, „aus Respekt vor Bouna und Zyed, um ihre Familien zur Ruhe kommen zu lassen, müssen die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden - wie jeder andere Mensch auch.“
Familienmitglieder, Freunde und Bekannte von Bouna Traore und Zyed Benna kommen zum Todestag am 27. Oktober an einem kleinen Mahnmal in dem Pariser Vorort zusammen. „Es muss Gerechtigkeit geschaffen werden, wir brauchen ein Urteil“, forderte ein Verwandter der Opfer schon vor Jahren. Der Gedenkstein ist schlicht gehalten, ein weißer Sockel mit schwarzer Tafel: „Zwei Kinder haben die Erde verlassen, aber zwei Engel haben das Paradies betreten.“