Alltagschemikalien ersetzen in Syrien die C-Waffen

Damaskus (APA/Reuters) - Das Senfgas und die Chemikalien zur Produktion des Nervengases Sarin aus den Arsenalen des syrischen Präsidenten Ba...

Damaskus (APA/Reuters) - Das Senfgas und die Chemikalien zur Produktion des Nervengases Sarin aus den Arsenalen des syrischen Präsidenten Bashar al Assad waren noch nicht völlig vernichtet, als im April 2014 bereits neue Vorwürfe gegen dessen Truppen bekannt wurden. Anstelle des Giftgases würden die Soldaten nun gewöhnliches Chlor gegen die Zivilbevölkerung einsetzen, hieß es.

Die Klagen über solche Angriffe reißen seither nicht ab. Zuletzt berichtete eine Oppositionsgruppe am Dienstag über den Abwurf einer Fassbombe mit Chlor in der Provinz Idlib, durch die sechs Menschen getötet worden seien. Deutsche Experten vermuten, dass neben Chlor möglicherweise auch andere Chemikalien wie Brom oder Salpetersäure anstelle der C-Waffen zum Einsatz kommen könnten.

Syrien hatte im August 2013 das Giftgas Sarin nahe Damaskus eingesetzt. Bei dem Angriff kamen Hunderte Menschen um. Unter massivem internationalem Druck willigte das Land wenig später in die Vernichtung seiner Chemiewaffen ein. Im Oktober 2014 erklärte die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) diese Aufgabe für beendet.

Doch inzwischen ersetzen in Syrien offenbar andere Chemikalien Sarin und Co. Chlor, Brom und Salpetersäure ist gemein, dass sie nicht unter das Chemiewaffen-Übereinkommen fallen. „Chlor braucht man in Arabien, um Wasser aufzubereiten“, sagt ein Fachmann, der namentlich nicht genannt werden möchte, der Nachrichtenagentur Reuters. Hinzu komme, dass Chlor simpel und gerade für Meeresanrainer in endloser Menge herzustellen ist. „Die Produktion von Chlor ist einfach - Sie brauchen ja nur Strom und Meerwasser“, erklärt der Experte. Durch Elektrolyse lasse sich Chlor aus dem salzigen Meerwasser gewinnen. „Das ist ganz schnell produziert, wenn man keine großen Anforderungen an das Material stellt“.

Der erste Einsatz von Chlor als Kampfstoff ist ziemlich genau hundert Jahre her: Am 22. April 1915 nutzten deutsche Truppen im Kampf um das belgische Städtchen Ypern den Lungenkampfstoff erstmals im großen Stil. „Man hat Stahlflaschen mit Chlor aufgestellt und wenn der Wind günstig stand, wurden sie aufgemacht“, berichtet der Fachmann. Chlor sei jedoch rasch nicht mehr eingesetzt worden. Die Kriegsparteien setzten bald auf effektivere Kampfstoffe wie Senfgas. „Man hat erkannt, dass Chlor taktisch nicht so wertvoll ist - schließlich wechselt der Wind, und das Gas verdünnt sich in der Luft“, sagt der Experte. „Das ist im Grunde Verzweiflung, wenn man so etwas noch nutzt.“

Nach den Berichten aus Syrien geht der Fachmann jedoch davon aus, dass dort tatsächlich Chlor eingesetzt wird. Es sei die Rede von gelblich-grünlichen Wolken und Verätzungen bis in die Lunge hinein, was typisch für Chlor sei. Dazu komme der bekannt stechende Geruch. Einen ähnlichen Schluss zieht auch die OPCW: Mit großer Wahrscheinlichkeit sei in drei Dörfern im Norden Syriens zwischen April und August 2014 Chlor eingesetzt worden, erklärte sie Anfang Februar nach einer Untersuchung.

Andererseits gibt es auch Berichte über eher bräunliche Giftgas-Wolken. „Braun würde für Brom sprechen, was vom Geruch her für Unbewanderte dem Chlor sehr nahe kommt“, sagt der Fachmann. Der Einsatz von Brom wäre seinen Worten nach deutlich einfacher als der von Chlor. „Brom ist eine Flüssigkeit, die kann man sehr wohl in Fässer füllen“, erklärt er. Chlor dagegen sei ein Gas. Wie sich dieses in die berüchtigten Fass-Bomben füllen lasse, sei aus der Ferne schwer nachzuvollziehen.

Brom dagegen lasse sich in Fässer packen, siede bei 35 bis 40 Grad Celsius und verteile sich dann selbst. Es werde aus dem Salz Bromid gewonnen und sei damit nicht so leicht zugänglich wie Chlor. „Das kann man nicht so einfach herstellen, das muss man kaufen - und es ist erheblich teuerer als Chlor“, sagt der Experte. Die Berichte könnten aber auch auf eine ganz andere Substanz hindeuten, nämlich „hoch konzentrierte Salpetersäure, die stößt Stickoxide aus, das sind braune Dämpfe, die auch ätzend wirken“, sagt der Fachmann. Aus der Ferne und ohne Proben der betroffenen Umgebung lasse sich aber nicht klären, was genau eingesetzt wurde.

Egal, welche der Chemikalien genutzt wird, die Wirkung für die Opfer bleibt die gleiche. „Das ist eine ganz furchtbare Geschichte, wenn man allgemeine Chemie benutzt, um einen Feind zu schädigen, denn man trifft natürlich hauptsächlich die Zivilisten“, sagt der Fachmann. Die Behälter würden aus schnell fliegenden Hubschraubern abgeworfen und könnten kaum exakt ein Ziel treffen. „Ich sehe das als Verzweiflungsaktion. Das soll ein bisschen Unsicherheit auslösen, aber im Grunde bewirkt das keine Wende - in welche Richtung auch immer.“