Diagonale - Constantin Wulff: Psychiatrie ist etwas, das uns betrifft

Graz/Tulln/Wien (APA) - Constantin Wulff (52) zählt mit seinen Direct Cinema-Arbeiten zu den Fixgrößen der heimischen Dokumentarfilmszene. N...

Graz/Tulln/Wien (APA) - Constantin Wulff (52) zählt mit seinen Direct Cinema-Arbeiten zu den Fixgrößen der heimischen Dokumentarfilmszene. Nach „Ulrich Seidl und die bösen Buben“ (2014) schließt er mit „Wie die anderen“ an seinen Film „In die Welt“ an, mit dem er 2009 den Großen Diagonale-Preis in der Sparte Dokumentarfilm gewann. Österreich-Premiere ist am Donnerstag (19.) in Graz, regulärer Filmstart am 11. September.

APA: Herr Wulff, in Ihrem Film „In die Welt“ haben Sie in der Semmelweis-Klinik die Arbeit einer Geburtsklinik dokumentiert, für „Wie die anderen“ haben Sie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Landesklinikum Tulln gedreht. Entsteht da eine Art ganz persönliche Krankenhausserie?

Constantin Wulff: Ausgangspunkt bei beiden Filmen war, dass ich den Eindruck hatte, dass die Bilder, die wir von solchen Einrichtungen im Kopf haben, oft sehr stereotyp sind und nicht mehr mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Ich sehe es als meine Aufgabe als Filmemacher, diesen Klischees etwas gegenüberzusetzen. Das mache ich in Form der dokumentarischen Beobachtung.

APA: Was sind das für Klischees, die im Zusammenhang mit Kinder- und Jugendpsychiatrie kursieren?

Wulff: Oft sind das Bilder aus dem 19. Jahrhundert. Da hat dann Psychiatrie etwas zu tun mit Ausgrenzen, mit Einsperren, mit Marginalisieren, mit etwas, das im Grunde mit der Gesellschaft nichts zu tun haben soll. Wenn man aber heute auch nur einen Tag in einer Psychiatrie ist, merkt man: Das hat sehr viel mit uns zu tun. Das sind nicht die anderen, sondern das sind wir. Das Ausblenden von psychischen Krankheiten in der Gesellschaft ist extrem groß, was umso absurder ist, wenn man sich die Zahlen anschaut, wie viele Menschen von psychischen Erkrankungen betroffen sind. Jeder Sechste, Siebente hat schon mal Depressionen gehabt, jeder Zehnte weiß aus eigener Erfahrung, was eine Psychose ist. Filme, wie ich sie mache, können zeigen: Das ist etwas, das uns betrifft und ganz nahe ist.

APA: Sie zeigen den harten Alltag, der nicht nur Pfleger oder Patienten zu schaffen macht, sondern auch den Ärzten.

Wulff: Es war mir ganz wichtig, auch diese Ebene der Institution zu zeigen und die Ebene des Personals. Dessen Zugewandtheit und Engagement hat auch Grenzen. Und eine der Grenzen, die gesetzt werden, sind natürlich die materiellen Ressourcen. Es gibt in Österreich eine ganz krasse Unterversorgung, was Fachärzte für Kinder und Jugendliche betrifft. Das ist eine offene Frage, die politisch gelöst werden muss.

APA: In der Geburtsklinik waren körperliche Schmerzen sehr präsent, in der Psychiatrie wird viel gedacht und geredet. Hat es ein anderes Konzept gebraucht, um diese anderen Erscheinungsformen abzubilden?

Wulff: Natürlich wird in so einer Institution, und das ist auch das Tolle dort, unglaublich viel geredet. Man tauscht sich aus, es gibt Supervisionen, man reflektiert den eigenen Alltag, Gespräche sind auch Teil der Therapien. Das kam mir als Filmemacher entgegen, denn dies war natürlich bei diesem Film eine Grundsatzfrage: Wie stelle ich etwas dar, das im Kern die Innenwelt eines Menschen betrifft? Wie kann ich das veräußerlichen? Und da ist das Sprachliche extrem wichtig für das Filmische.

APA: Haben Sie zunächst nur Material gesammelt und erst allmählich die Dramaturgie für diesen Film entwickelt?

Wulff: Wir haben über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren gedreht, reine Drehdauer war drei Monate. Ich war oft auch ohne Kamera und Tonband dort. Es war ein Sammeln, aber kein willkürliches Sammeln, sondern nach gewissen Themen, Leitlinien und Protagonisten, die man sich vorher schon überlegt hat. Zum Beispiel begleiten wir eine junge Frau, die erste Szene mit ihr und die letzte liegen fast eineinhalb Jahre auseinander. Man sieht eine gewisse Entwicklung. Da war es mir wichtig, dass man auch den Faktor Zeit sieht, der eine essenzielle Rolle spielt. Wie haben über 100 Stunden Material gehabt - aber für mich ist es der einzige Film, den ich daraus machen konnte. Es ist natürlich auch ein persönlicher Film. Ich gebe auch Rechenschaft über das, was ich dort erlebe. Dieses intensive, direkte Erlebnis war mir wichtig, und das mussten die Szenen auch einlösen.