Denken am Rand des Untergangs: Der „Wiener Kreis“ als Buch und Schau
Wien (APA) - „Exaktes Denken am Rand des Untergangs“ führte in den 1920er Jahren zu einer intellektuellen Hochblüte in Wien. Wissenschafter ...
Wien (APA) - „Exaktes Denken am Rand des Untergangs“ führte in den 1920er Jahren zu einer intellektuellen Hochblüte in Wien. Wissenschafter und Philosophen wie Moritz Schlick, Hans Hahn, Otto Neurath, Kurt Gödel, Ludwig Wittgenstein oder Karl Popper wirkten im und an der Peripherie des „Wiener Kreis“ genannten philosophischen Zirkels, dem nun ein neues Buch und ab Mai eine Schau an der Uni Wien gewidmet ist.
Ende des 19. Jahrhunderts gerieten zwei der damals führenden Physiker aneinander: Ernst Mach und Ludwig Boltzmann stritten in ihrer legendären Auseinandersetzung über die Frage „Gibt es Atome?“. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg diskutierten die beiden Philosophen Karl Popper und Ludwig Wittgenstein in Cambridge erbittert über die Frage „Gibt es philosophische Probleme?“.
„Im knappen halben Jahrhundert zwischen diesen beiden Disputen spielt Wien in der Philosophie eine ähnliche richtungsweisende Rolle, wie einst in der Musik; und in diesem goldenen Zeitalter der österreichischen Philosophie nimmt der Wiener Kreis eine zentrale Stellung ein“, schreibt der Wiener Mathematiker Karl Sigmund in seinem soeben erschienenem Buch „Sie nannten sich der Wiener Kreis - Exaktes Denken am Rand des Untergangs“.
Für Sigmund sind Mach und Boltzmann die „Gründungsväter“ des „Wiener Kreis“, der als philosophischer Zirkel vom Philosophen Moritz Schlick, dem Mathematiker Hans Hahn und dem Sozialreformer Otto Neurath 1924 in Wien ins Leben gerufenen wurde. Hahn und Neurath hätten bei Mach und Boltzmann studiert und „waren zutiefst geprägt von ihnen“, wie Sigmund gegenüber der APA erklärte.
Aus diesem Grund werden in der von Sigmund und dem Zeithistoriker Friedrich Stadler anlässlich des 650-Jahr-Jubiläums der Universität Wien kuratierten Ausstellung „Der Wiener Kreis“, die vom 20. Mai bis 31. Oktober im Uni-Hauptgebäude gezeigt wird, auch die Büsten von Mach und Boltzmann zu sehen sein. Diese sind üblicherweise im Arkadenhof der Uni (Boltzmann) bzw. im Rathauspark (Mach) aufgestellt.
Auf über 1.000 Quadratmetern wird es in der Ausstellung weiters zahlreiche Originale und Autographen u.a. von Schlick, Gödel und Wittgenstein zu sehen geben, von letzterem etwa eines der drei originalen Typoskripte des „Tractatus“. Der Medienkünstler Peter Weibel hat für die Schau ein „Panorama-Lab“ entworfen, ein acht Meter großer Zylinder, auf dessen Innenwände Hunderte Bilder projiziert und interaktiv verändert werden können.
Gezeigt wird die Ausstellung in ehemaligen Turnräumen im Erdgeschoß des Uni-Hauptgebäudes. Diese wurden in ein Konferenzzentrum umgebaut und werden vor dessen Inbetriebnahme für die Schau genutzt. Ausstellungsarchitekt Hermann Czech hat einen ungewöhnlichen Zugang gewählt: Auf halber Höhe der Zugangsrampe zum Haupteingang wird man über ein Fenster in den Ausstellungsraum gelangen.
Just über solche Erdgeschoßfenster der Uni flohen 1933 Studenten vor antisemitischen Ausschreitungen, wie ein Foto im Ausstellungsfolder zeigt. Ein zufälliger Zusammenhang, wie Sigmund sagt - und doch symbolhaft für das Schicksal des „Wiener Kreis“ und seiner Proponenten. Ab 1924 traf sich der philosophische Zirkel regelmäßig an Donnerstagabenden in einem kleinen Hörsaal in der Boltzmanngasse, um philosophische Fragen zu diskutieren, etwa wodurch sich wissenschaftliche Erkenntnis auszeichne, oder ob metaphysische Aussagen Sinn haben.
Um teilzunehmen, habe man von Schlick persönlich eingeladen werden müssen, so Sigmund, der etwa auf Karl Popper oder Ludwig Wittgenstein verweist. Diese hätten nie an den Treffen teilgenommen, aber dennoch mit einzelnen Mitgliedern des Zirkels viel Kontakt gehabt und diese auch stark beeinflusst. Fünf Jahre dauerte die informelle Phase des Schlick-Zirkels, ehe man sich 1929 unter dem Namen „Wiener Kreis“ und dem Manifest „Die wissenschaftliche Weltauffassung“ an die Öffentlichkeit wandte.
Die Mitglieder des Zirkels sahen sich als die Moderne, mit angestaubten philosophischen Lehrmeinungen wollte man nicht zu tun haben. Herausragende Nachwuchswissenschafter wie Rudolf Carnap, Karl Menger oder Kurt Gödel stießen zum „Wiener Kreis“, der rasch zu einer „Hochburg des Logischen Empirismus“ wurde und „heute noch die angelsächsische Philosophie dominiert“, so Sigmund.
Aber auch politische und gesellschaftliche Fragen spielten im „Wiener Kreis“ eine bedeutende Rolle. „Die Verfasser des Manifests gehören zum linken Flügel der Gruppe und machen kein Hehl aus ihrer Absicht, die Gesellschaft zu reformieren“, schreibt Sigmund in dem Buch. Vor dem Hintergrund wachsender antisemitischer und reaktionärer Strömungen an der Uni Wien und dem zunehmend feindseligen politischen Umfeld kam es deshalb zur schrittweisen Auflösung der Vereinigung. Spätestens als Schlick 1936 im Uni-Hauptgebäude von einem ehemaligen Studenten erschossen wird, ist der „Wiener Kreis“ Geschichte.
Vielen Mitgliedern gelang die Flucht in die USA, sie fanden dort aber nie wieder zusammen. Im Gegenteil: Gödel etwa nahm in Princeton konträre Positionen zum „Wiener Kreis“ ein. „Mit der Vertreibung aus Österreich war es vorbei“, sagte Sigmund, auch wenn das Erbe des „Wiener Kreis“ weiter weltweit wirksam bleibt und aus der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts nicht wegzudenken sei.
In ORF III ist am 25. Mai im Rahmen des Themenabends zum 650-Jahr-Jubiläum der Universität Wien eine Sendung über den Wiener Kreis zu sehen (21.50 Uhr).
(S E R V I C E - Karl Sigmund: „Sie nannten sich der Wiener Kreis - Exaktes Denken am Rand des Untergangs“, Springer Spektrum, 357 Seiten, 20,55 Euro, ISBN 978-3-658-08534-6; Ausstellung „Der Wiener Kreis - Exaktes Denken am Rand des Untergangs“, 20. Mai bis 31. Oktober, Universität Wien, Hauptgebäude)