Nur die Hunde zeigen Zähne
In diesem Spiegel bleiben manche Flecken blind: Harald Demmer inszeniert Max Frischs „Andorra“ im Großen Haus des Tiroler Landestheaters als allzu braves Lehrstück.
Von Ivona Jelcic
Innsbruck –Zig Schulklassen haben sich durch dieses von Max Frisch 1961 in ein Klima der Verdrängung und Verleugnung geworfene Stück geackert. „Andorra“, gedacht nicht als der gleichnamige Pyrenäenstaat, sondern als Modell: Für die mörderischen Mechanismen von Vorurteilen und Klischees, für den Antisemitismus als genau daraus entstehendem Phänomen, für das Mitläufertum als vermeintliche Banalität und tatsächliche Ausgeburt des Bösen.
Man kann die Generationen an Deutschlehrern durchaus verstehen: Frischs Versuchsanordnung ist eindrücklich. Sie mag in ihrer Lehrstückhaftigkeit mit den Jahren etwas Staub angesetzt haben, ist in ihren Grundfragen aber überaus heutig geblieben. Welche gefährlichen Dynamiken Stigmatisierung und Diskriminierung entwickeln können, zeigt sich tagtäglich auf der Straße – in Bettlerdiskussionen genauso wie angesichts von Pegida-Aktivisten.
Nur leider bleibt das im Tiroler Landestheater höchstens graue Programmheft-Theorie. Zu brav heruntergespielt und damit im Modellcharakter des Stücks steckenbleibend wirkt die Inszenierung von Harald Demmer, Schauspielchef am Pfalztheater Kaiserslautern, der früheren Wirkstätte von Landestheater-Intendant Johannes Reitmeier.
Auf der Bühne wird – vom antiquierten Staubsauger über das Spießbürger-Kostüm bis zur originalen Jukebox – Sechzigerjahre-Flair und -Mief vermittelt (Bühne: Oliver Kosteck, Kostüme: Anke Drewes). Hier will der einst widerständige, jetzt trunksüchtige Lehrer „dieses Volk vor seinen Spiegel zwingen“, traut sich aber selbst nicht hineinzuschauen: Den Sohn, den er mit einer aus dem „Feindesland“ der „Schwarzen“ gezeugt hat, verkaufte er den Andorranern als ein vor den dortigen faschistoiden Verhältnissen gerettetes Judenkind. Woraufhin sich seine Landsleute in ihrer moralischen Überlegenheit sonnen können. Aber der Bub, dieser Andri, ist und bleibt halt „ein Jud“, und die „denken nur ans Geld“, weshalb der Tischler ihm rät, doch an die Börse zu gehen, anstatt bei ihm eine Lehre anzufangen. So häufen sich die bewusst und beiläufig fallen gelassenen Klischees, aus denen es nicht einmal mehr dann ein Entrinnen gibt, als sich Andri als leiblicher Sohn des Lehrers entpuppt.
1961 bewegten der Prozess gegen Adolf Eichmann und Hannah Arendts Theorie von der „Banalität des Bösen“ die Weltöffentlichkeit. Einer nach dem anderen treten auch die Andorraner – und das sind die wenigen beklemmenden Momente dieses Theaterabends – an die Zeugenschranke, um sich von jeder Schuld freizusprechen. Frisch hat sie als namenlose Typen angelegt – neben Wirt (Gerhard Kasal) und Jemand (Eleonore Bürcher) ist der Doktor unter ihnen ein besonders dankbarer – Andreas Wobig weiß als Inkarnation der Neidgesellschaft zu überzeugen.
Sergej Gößners Andri ist trotzig-selbstbewusst, zeigt aber wenig Figuren-Entwicklung, Jan-Hinnerk Arnke hat als Lehrer die besten Momente in der finalen Verzweiflung, Lisa Hörtnagls Barblin, Andris Halbschwester und Braut, hätten feinere Zwischentöne gut gestanden.
Zur finalen „Judenschau“ werden schließlich Schäferhunde aufgeboten, doch die Bedrohung hat subtilere und eben menschliche Ursprünge: Die Andorraner töten „ihren Jud nicht“, sagte einst Max Frisch, „sie machen ihn nur zum Jud in einer Welt, wo das ein Todesurteil ist“.