20. März 1995

Wie der Giftgasanschlag von Tokio die Welt veränderte

Ein Polizist trägt einen Sack mit Chemiekalien aus dem Hauptquartier der Aum-Sekte (23. März 1995).
© Yoshikazu Tsuno / EPA / pictured

Vor 20 Jahren verseuchten Terroristen die U-Bahn von Tokio mit Nervengift.

Von Matthias Sauermann

Tokio –Am Morgen des 20. März 1995 durchbohren Attentäter in mehreren U-Bahn-Waggons in Tokio mit den geschärften Spitzen ihrer Schirme am Boden platzierte Kunststoffbeutel. Darin befindet sich Sarin, ein besonders gefährliches Nervengift. Ein nadelkopfgroßer Tropfen davon kann einen Menschen töten. Was folgt, ist Chaos. Menschen brechen zusammen. Hilfe lässt lange auf sich warten, berichten Augenzeugen später – die Krankenwägen können nicht überall gleichzeitig sein. 13 Menschen sterben, etwa 1000 werden zum Teil schwer verletzt. Die Bilder des Anschlags an einem Knotenpunkt Tokios zur Hauptverkehrszeit brennen sich in das Gedächtnis der Welt ein.

Sektenführer Shoko Asahara.
© Files-Jiji Press / EPA / picture

Verantwortlich für das Attentat, das sich heute zum zwanzigsten Mal jährt, zeichnet die Sekte Aum Shinrikyo. In den paranoiden, religiösen Wahnvorstellungen von Shoko Asahara, dem charismatischen Führer der Endzeitsekte, spielte Giftgas eine zentrale Rolle. Er selbst ist schwer sehbehindert, auf einem Auge blind. Diese Behinderung führte er darauf zurück, dass die USA permanent Giftgas gegen ihn einsetzen würden. Schließlich ließ er auch diesen Kampfstoff von seinen Anhängern in der U-Bahn verteilen.

In den Köpfen der Sicherheitsbehörden hat sich seit 1995 die Angst vor Attentaten mit chemischen oder biologischen Waffen festgesetzt. Und nicht, weil der Anschlag so verheerend gewesen wäre, sondern weil er aufzeigte, was im Terrorismus möglich sei, erklärt Politikwissenschafter Franz Eder im Gespräch mit der Tiroler Tageszeitung. „Aum hatte Sarin in Mengen, um potenziell etwa 4,2 Millionen Menschen umzubringen. Auch andere ihrer Mittel, etwa zu einer bakteriellen Lebensmittelvergiftung, hätten zu Hunderttausenden Toten führen können“, sagt der Terrorismus-Experte. Von den Behörden unbemerkt hatte die Sekte diese Stoffe herstellen und horten können – trotz durchaus vorhandener Hinweise.

Nachbarn sagten etwa aus, dass es nahe eines Grundstücks der Sekte komisch roch und sie Kopfweh bekämen. Diese Hinweise wurden damals nicht ernst genommen – zu unvorstellbar war ein Anschlag mit Massenvernichtungswaffen noch gewesen. „Seitdem haben Behörden wahnsinnige Angst vor solchen Attentaten. Seitdem würden solche Hinweise umgehendst verfolgt werden“, schätzt Eder. Eine Wiederholung eines solchen Anschlages sei deshalb unwahrscheinlich.

Tokio ist dennoch alles andere als vergessen. Die Angst der USA vor Terroranschlägen nach dem 11. September und die damalige Panik, dass der Irak über C-Waffen verfüge, sei etwa damit verknüpft, meint Eder. Man dachte sich: „Wir haben gesehen, was mit den damaligen Ressourcen möglich war. Was könnte mit den Möglichkeiten von heute gelingen? Was, wenn solche Gruppen in Ruhe an Kampfstoffen arbeiten können?“ Vieles an den Handlungen von Politikern und Sicherheitsbehörden heute lasse sich mit der Angst erklären, die in dem Giftgasanschlag von Japan verwurzelt ist, sagt Eder.

Shoko Asahara wurde infolge des Anschlages vom 20. März 1995 wie mehrere andere Sektenmitglieder zum Tode verurteilt. Er wartet nach wie vor auf seine Hinrichtung.

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