Radikaler Musikerneuerer: Pierre Boulez wird 90

Baden-Baden (APA/dpa) - Als junger Mann wollte er noch die Opernhäuser sprengen - stattdessen hat er die Bühnen der Welt erobert: Pierre Bou...

Baden-Baden (APA/dpa) - Als junger Mann wollte er noch die Opernhäuser sprengen - stattdessen hat er die Bühnen der Welt erobert: Pierre Boulez, einer der bedeutendsten Vertreter der musikalischen Avantgarde. Am 26. März wird der international renommierte Komponist, Dirigent und Lehrer von Weltruf 90 Jahre alt. Der Provokateur aus Frankreich ist ruhiger geworden, jedoch noch voller Ideen.

Seit über einem halben Jahrhundert mischt der radikale Erneuerer die Musikwelt auf. Er hat dabei viel ausgeteilt - an tote und lebende Komponisten - und auch einiges einstecken müssen. Beirren ließ er sich bei seiner Suche nach dem Neuen aber nicht.

Ravel, Strawinsky, Schönberg - das war einmal. Der Mathe-Freak und Sohn eines Stahlfabrikanten aus Montbrison im Loire-Tal entwickelte die Zwölftontechnik von Arnold Schönberg zur sogenannten seriellen Musik weiter; einer Strömung der Neuen Musik, die auf Zahlen- oder Proportionsreihen aufbaut. Seine in den 1950er-Jahren rigide konstruierte Musik trug ihm den Spitznamen „Robespierre“ ein - in Anspielung auf den französischen Revolutionsführer.

Die Modernität seiner Kompositionen wie „Notations“ oder „Le marteau sans maitre“ („Der Hammer ohne Herr“) wird von Kritikern und Musikliebhabern häufig als atonal, chaotisch und ungeordnet empfunden. Was auch daran liegen dürfte, dass Boulez‘ Werk nicht unbedingt leicht zugänglich ist: „Viele Leute tun sich schwer“, weiß Musikwissenschaftler Dariusz Szymanski.

Wer Boulez verstehen und lieben will, muss neugierig sein und sich Zeit nehmen, sagt sein Weggefährte, der Pianist Pierre-Laurent Aimard. „Es ist eine sehr reiche Musik.“ Kühl - wie manche sagen - sind seine Kompositionen keinesfalls, meint der Karlsruher Komponist Wolfgang Rihm: „Es ist eine Musik von großer Geschmeidigkeit, Eloquenz und Verführungskraft.“

Boulez hat bis jetzt kein Opernhaus gesprengt, dafür gängige Vorurteile. Etwa über Wagner. In den 1970er Jahren dirigierte er in Bayreuth die legendäre „Ring“-Inszenierung von Patrice Chereau mit ganz anderen Tempi: „Ich wollte bewusst mit der Tradition brechen, nie aber mit der Geschichte“, sagte er einmal. Und hat damit manch Skeptiker bekehrt: „Boulez hat mich mit Wagner versöhnt“, sagt der Baden-Badener Festspielhaus-Intendant Andreas Mölich-Zebhauser.

Boulez ist mit den Jahren poetischer geworden, sich aber auf der Suche nach dem Neuen treugeblieben. Sein Repertoire reicht von klassischer über „mikrotonale“ Musik mit Computer bis hin zu Konzerten mit Bruce Springsteen oder Frank Zappa. Festlegen ließ er sich nie; weil er kaum etwas so hasst wie Routine.

Der Ausnahmemusiker versteht sich in erster Linie als Komponist. Er wird aber auch für seine Interpretationskunst und seine präzisen Orchestrierungen gerühmt. Als Dirigent verzichtet er dabei auf Frack und Taktstock: „Mit den Händen kann man mehr ausdrücken als mit einem Holzstäbchen.“ Zudem ist Boulez Kulturmanager, Musikphilosoph, international gefragter Lehrer und Gründer des Pariser Forschungsinstituts für Akustik/Musik IRC.

Aus Sicht von Intendant Mölich-Zebhauser ist er ein noch immer unterschätzter Lotse: „Es gibt nicht viele solcher Menschen, die uns Neues geben und Altes besser verstehen lassen.“

Boulez‘ Weltkarriere führte ihn vom Sinfonieorchester des damaligen Südwestfunks in Baden-Baden über das BBC Symphonic Orchestra in London bis hin zum New York Philharmonic Orchestra. Zum 90. Geburtstag bekam der inzwischen Vielgeehrte ein paar Auszeichnungen dazu: Neben der Ehrenbürgerwürde von Baden-Baden, wo er seit mehr als fünf Jahrzehnten seinen deutschen Wohnsitz hat, wurde der Franzose jüngst mit dem Hamburger Bach-Preis geehrt.

Nach der vorgezogenen Geburtstagsfeier im Jänner in Baden-Baden mit Konzerten aus allen Schaffensphasen widmet ihm nun die Staatsoper Berlin ein Konzertprogramm (27. März bis 6. April). Als eines von drei Orchestern werden die Wiener Philharmoniker unter Daniel Barenboim eine Auswahl von Boulez-Werken aufführen.

Boulez wird auch diese Konzerte wohl von Baden-Baden aus verfolgen. In den Kurort am Schwarzwald hat er sich immer wieder zurückgezogen, um dem Trubel in Paris zu entfliehen, zur Erholung nach weltweiten Konzerttourneen und zum Komponieren. Zwar ist sein Kopf noch immer „voller Musik“, wie sein Sprecher betont. Doch das Alter fordert seinen Tribut. Die Augen machen Probleme, und schon die Feiern in Baden-Baden konnte der Maestro nur von zu Hause per Live-Schaltung auf dem Bildschirm miterleben.

Über die vielen „Bravo“-Rufe für sein Lebenswerk und Kompositionen wie „Experimente“, „Anthèmes“ oder den berühmten „Marteau“, der 1955 in Baden-Baden uraufgeführt wurde, hat er sich jedenfalls sehr gefreut, so die Leiterin seines Pariser Künstlerbüros, Marion Thiem.