Das Ende der syrischen Revolution
In Nordsyrien kämpfen gemäßigte Rebellen verzweifelt Rückzugsgefechte. Ein Besuch bei Milizen, deren Rivalitäten, Bündnisse und Feindschaften kaum zu durchschauen sind.
Von Thomas Schmidinger
Hier in Azaz wehen sie noch, die grün-weiß-schwarzen Fahnen der syrischen Revolution, mit denen 2011 Tausende Zivilisten in ganz Syrien auf die Straße gingen und unter denen mit Beginn des Bürgerkrieges die Freie Syrische Armee (FSA) gegen die Regierungsarmee kämpfte. In vielen Teilen Syriens ist die alte FSA heute aufgerieben und zersplittert. Im Norden dominieren der selbst ernannte „Islamische Staat“ (IS), die zum Al-Kaida-Netzwerk gehörende Jabhat Al-Nusra und in den drei kurdischen Enklaven die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer der Volks- und Frauenverteidigungskräfte YPG und YPJ.
Ein schmaler Streifen Land um die Stadt Azaz in Richtung Aleppo steht noch unter Kontrolle der „Islamischen Front“, eines losen Zusammenschlusses ehemaliger FSA-Brigaden mit den von den Muslimbrüdern unterstützten Liwa al-Tawhid und einigen anderen gemäßigt politisch-islamischen bis jihadistischen Kräften. Der Grenzübergang Bab Al-Salam wird heute von der zur Liwa Al-Tawhid gehörenden „Nördlichen Sturmbrigade“ kontrolliert.
Der Grenzübergang ist eine der wenigen noch immer regulär geöffneten Verbindungen zwischen der Türkei und Syrien. Während die Türkei alle Grenzübergänge zu den drei kurdischen Enklaven schließen ließ, seit dort 2012 eine Schwesterpartei der PKK die Macht übernommen hatte, und der Grenzübergang in den selbst ernannten „Islamischen Staat“ bei Akçakale bzw. Tal Abyad nur sporadisch zu Feiertagen geöffnet ist, stehen hier schon Kilometer vor der Grenze große Lkw im Stau, die türkische Waren nach Syrien bringen. Im Juli 2012 hatte die Freie Syrische Armee die etwa 35.000 Einwohner zählende Stadt eingenommen und damit auch den Grenzübergang zur Türkei. Damit standen den Kämpfern der FSA auch die Nachschubwege aus der Türkei offen. Journalisten konnten über Azaz nach Aleppo einreisen.
Umkämpfte Region
Im September 2013 eroberte jedoch der „Islamische Staat im Irak und Sham“, wie sich der IS damals noch nannte, die Stadt – um im Februar 2014 nach einem Ultimatum der zur Al-Kaida gehörenden Jabhat Al-Nusra wieder abzuziehen. Seither teilen sich die Islamische Front (IF) und die Jabhat Al-Nusra das Gebiet. Der Grenzposten selbst wird von der IF kontrolliert. In der Stadt selbst und in einigen Dörfern der Umgebung ist jedoch auch die Jabhat Al-Nusra präsent. Zwischen der gemäßigteren IF und den Kämpfern des Al-Kaida-Netzwerkes existiert derzeit eine keineswegs konfliktfreie Kooperation. Zusammenarbeit gibt es gegen den IS und das Regime. Zugleich rivalisieren IF und Jabhat Al-Nusra um den Einfluss in Nordsyrien.
Der von den Rebellen gehaltene Teil von Aleppo ist in den letzten Wochen von der Jabhat Al-Nusra übernommen worden. Für das kurdische Viertel von Aleppo, das sich als neutrale Zone zwischen Rebellen und Regierungsarmee etablieren konnte, stellt diese Übernahme ein ernsthaftes Problem dar. Während die Kurden mit der alten FSA noch kooperieren konnten und selbst mit der Islamischen Front noch irgendwie ein Auskommen fanden, so stellen die Jihadisten der Jabhat Al-Nusra für die linke Demokratische Unionspartei PYD, die hier und in den drei kurdischen Enklaven in Nordsyrien das Sagen hat, einen ideologischen Todfeind dar.
Aus der einst marxistisch-leninistischen PKK hervorgegangen, vertritt die PYD heute eine deutlich weniger dogmatische, an basisdemokratischen Vorstellungen orientierte, linke Politik. Allein die starke Position der Frauen, die mit den Frauenverteidigungseinheiten eigene bewaffnete Kräfte stellen, ist für Jihadisten jeglichen Couleurs ein Gräuel. Kämpfer des IS und der Jabhat Al-Nusra glauben gar, dass ihre eigenen „Märtyrer“ nicht ins Paradies einkehren, wenn sie von einer Frau statt von einem Mann erschossen werden. Der Status des kurdischen Viertels von Aleppo basierte allerdings eher auf Diplomatie denn auch Kampfkraft. Dazu mussten die Vertreter des kurdischen Viertels sowohl mit der Opposition als auch mit dem Regime im Gespräch bleiben. Ob dies nach einer endgültigen Übernahme des Nordostens der Stadt durch die Jabhat Al-Nusra noch möglich sein wird, muss sich erst zeigen. Zuletzt gelang es der Regierung, die Nachschubwege nach Aleppo fast völlig zu kappen. Gerade eine Straße führt noch halbwegs sicher in das von der Jabhat Al-Nusra gehaltene Gebiet.
Die gemäßigten Rebellen konnten die von ihnen verteidigten Teile Aleppos nicht halten. Weiter westlich hat die ebenfalls jihadistisch orientierte Ahrar Al-Scham den Grenzübergang von Bab Al-Hawa übernommen. Den gemäßigteren Islamisten der IF und den mit ihnen verbündeten Resten der alten FSA bleibt so nur noch Azaz.
Wer mehr zu bieten hat
Manch ein Student, der 2011 als Demonstrant in Aleppo gegen das Regime auf die Straße gegangen ist, versieht nun als bärtiger Rebell mit der Kalaschnikow seinen Dienst. An der Grenze stehen auch internationale Kämpfer, die kaum ein Wort Arabisch sprechen. Längst ist auch unter diesen gemäßigten Rebellen die Konfessionalisierung des Konfliktes allgegenwärtig. Mit Christen und Juden habe er kein Problem, erklärt einer der Rebellen, „aber den Schiiten und Alawiten werden wir nie verzeihen“. Ihnen wird vorgeworfen, das Regime zu unterstützen. Die Unterstützung des Iran und der libanesischen Hizbollah für das Regime nährt hier den Hass der sunnitischen Rebellen gegen die Schiiten. Die Alawiten, denen Präsident Bashar Al-Assad und viele seiner engsten Vertrauten und Sicherheitskräfte angehören, werden hier ebenfalls pauschal als feindlich wahrgenommen.
Die Bündnisse und Feindschaften der verschiedenen bewaffneten Gruppen untereinander sind oft nur noch schwer zu durchschauen. Über drei Jahre Bürgerkrieg haben in Syrien die politische Macht wieder weitgehend in die Gewehrläufe lokaler Milizen gelegt, deren Loyalitäten gegenüber ihren Verbänden oft nicht sehr konstant sind. Wer besser bewaffnet ist und seinen Kämpfern mehr Sold und Überlebenschancen bieten kann, ist attraktiv. So schließen sich oft auch Kämpfer mit geringen Sympathien für den Jihadismus jihadistischen Milizen an, wenn diese gerade erfolgversprechender agieren. Während die USA spät, aber doch die Reste von FSA und die Islamische Front gegen den IS aufrüsten, bombardiert deren Luftwaffe derzeit nicht nur den „Islamischen Staat“, sondern auch Stellungen der mit der Islamischen Front kooperierenden Jabhat Al-Nusra.
Der Norden scheint für die gemäßigten Gruppen jedenfalls mittlerweile weitgehend verloren zu sein. Einige Kilometer östlich von Azaz hat sich der IS verschanzt. Von hier aus wird seine Herrschaft bis in den Irak nur noch von den kurdischen Enklaven von Kobanê und der Cezire unterbrochen, wo in den letzten Wochen schwere Kämpfe zwischen dem IS und mit den Kurden verbündeten aramäischsprachigen Christen stattfinden. Einige Kilometer westlich von Azaz bauen die Kurden einen Schutzwall um ihren autonomen Kanton Afrin, den sie im Ernstfall auch gegen den IS oder die Jabhat Al-Nusra verteidigen wollen.
Unter den Rebellen der Islamischen Front herrscht in Azaz keine Aufbruchstimmung. Vom Westen fühlt man sich alleingelassen. Sollte es ein Kalkül des syrischen Regimes gewesen sein, mit der Duldung der jihadistischen Gruppen und der Bekämpfung der gemäßigten FSA und der Islamischen Front die Opposition international zu diskreditieren und sich selbst wieder als das geringere Übel ins Spiel zu bringen, dann scheint diese Strategie derzeit aufzugehen. Kaum jemand spricht noch von den Kriegsverbrechen des Regimes. Assad scheint den Krieg zumindest auf dem diplomatischen Parkett zu gewinnen. Syrien hat ihn auf jeden Fall verloren.