Wie schwer ist ein Kilogramm?
Das Urkilogramm in einem Pariser Tresor wird leichter. Mit einer perfekten Ein-Kilo-Kugel wollen deutsche Forscher eine neue maßgebende Konstante für die Einheit Kilogramm finden.
Von Matthias Christler
Braunschweig –Was wiegt mehr, ein Kilogramm Gold oder ein Kilogramm Federn? Der Klassiker unter den Fangfragen, und doch tun sich derzeit selbst Physiker, die sich mit der Materie beschäftigen, schwer eine exakte Antwort darauf zu geben. Forscher der Physikalischen-Technischen Bundesanstalt (PTB) im deutschen Braunschweig lassen sich die Antwort 1,2 Millionen Euro kosten. So viel haben sie für einen sechs Kilogramm schweren, hochreinen Silizium-Zylinder aus Russland bezahlt. Aus diesem „Superkristall“ kann eine makellose Kugel, mit einer völlig gleichmäßigen inneren Struktur und frei von Verunreinigungen, poliert werden. Das Ziel der Physiker: „Wir wollen, dass die Physikalische-Technische Bundesanstalt die Realisierung des zukünftigen Kilogramms vollständig selbst beherrscht“, sagt Horst Bettin, der Leiter des Kilogramm-Projekts.
Derzeit arbeiten Forscherteams rund um die Welt daran, die Einheit Kilogramm neu zu bestimmen. Derzeit übernimmt diese Aufgabe noch das Urkilogramm, welches seit 1889 in einem Tresor des Internationalen Büros für Maß und Gewicht in Paris eingesperrt ist. Von allen Maßeinheiten ist das Kilogramm mittlerweile die einzige, die von einem echten Körper und nicht von einer Formel bestimmt ist. Um das zu ändern, wurde 2003 das Avogadro-Projekt gestartet und Wissenschafter aus aller Welt aufgefordert, eine neue Formel zu finden.
Die Physiker aus Braunschweig nähern sich dem Ziel an; schon vor einigen Jahren ließen sie eine Silizium-Kugel in Australien polieren und zählten anschließend die Atome darin. Über die Atomanzahl soll die Einheit Kilogramm schlussendlich definiert werden. Die Genauigkeit war aber noch nicht ausreichend. Die Wissenschafter vergleichen das mit Reiskörnern, die jeweils für ein Atom stehen. Zählt man die Reiskörner, verzählen sich die PTB-Wissenschafter derzeit bei 100 Millionen Reiskörner um zwei, Ziel ist es, sich nur um ein Reiskorn zu verzählen.
Mit der nächsten Kugel, die aus dem neuen zylinderförmigen Siliziumkristall direkt in der Bundesanstalt mit eigenen, verbesserten Geräten geschliffen wird, soll das erreicht werden. Der Prozess dauert allerdings. Von der Oberfläche des Ausgangsmaterials wird pro Minute ein Nanometer abgeschliffen. Schwer vorzustellen, wie wenig das ist. Im Vergleich dazu: Ein menschliches Jahr wächst in derselben Zeit 200 Nanometer.
„Wir erwarten eine Festlegung der Einheit für 2018“, sagt Bettin. Die Zeit drängt, weil sich das Internationale Büro für Maß und Gewicht Sorgen über das Urkilogramm macht. Der 39 Millimeter hohe Kilogramm-Prototyp aus einer Platin-Iridium-Legierung schrumpft nämlich.
Das ist auch der Grund, warum die Gold-Federn-Fangfrage nicht so leicht zu beantworten ist. Vom Urkilogramm gibt es 80 Kopien in verschiedenen Ländern, darunter auch Österreich, und es ist in den vergangenen 100 Jahren um 50 Mikrogramm leichter geworden als seine Kopien – vermutlich weil Wasserstoff entwichen ist. Anders gesagt: Ein Kilogramm Gold, gemessen nach dem Pariser Urkilo, ist um 0,00005 Gramm leichter als ein Kilogramm Federn, gemessen nach dem Urkilo in Österreich. Maßgebend ist aber immer noch das leichter gewordene Urkilogramm.
Sollte die Silizium-Kugel 2018 das Urkilogramm ablösen, wird diese Abweichung wieder korrigiert. An der Weitergabe der Einheit ändere sich aber weiterhin nichts, so die PTB-Wissenschafter: „Auch in Zukunft werden wir unseren Waagen mithilfe von Gewichtsstücken – möglichweise auch in Form von Silizium-Kugeln – sagen, wie schwer ein Kilogramm ist.“