Architekturprofessor: Vernichtung der Städte war ein verkappter Segen
Düsseldorf (APA/dpa) - Die Vernichtung der deutschen Städte im Zweiten Weltkrieg war für Architekten und Stadtplaner eine Chance und sogar e...
Düsseldorf (APA/dpa) - Die Vernichtung der deutschen Städte im Zweiten Weltkrieg war für Architekten und Stadtplaner eine Chance und sogar ein „Segen“ - das ist die provokante These des Hamburger Architekturprofessors Jörn Düwel. Schon seit den 1920er-Jahren habe man mit einem Luftkrieg gerechnet, der das Ende der Großstädte in ihrer damaligen Form bedeuten würde, sagt Düwel im Gespräch der dpa.
dpa: War die Vernichtung der Städte im Zweiten Weltkrieg ein „versteckter Segen“ für Architekten und Stadtplaner?
Düwel: Ohne Zweifel, die Zerstörung im Zweiten Weltkrieg war ein ‚verkappter Segen‘. Beispielsweise kommentierten Städtebauer in Coventry mit dieser Bemerkung die Folgen deutscher Luftangriffe. Heute irritiert uns, dass der Verlust des Alten keine Trauer auslöste, sondern offenbar ein Gefühl der Befreiung. Damals war Altstadt gleichbedeutend mit Enge, Schmutz und Verwahrlosung. Doch obwohl das ‚historische Fetzenkleid‘ allgemein stigmatisiert war, war es kaum loszuwerden. Vor allem die kleinteiligen Eigentumsverhältnisse standen einer weitgehenden Neuplanung entgegen. Insofern schienen erst die Bomben im wahrsten Sinne des Wortes den Boden für das Neue zu ebnen.
dpa: Gab es schon vor dem Weltkrieg Pläne, Städte zu zerstören, um sie nach neue und modernen Maßstäben wiederaufzubauen?
Düwel: Um 1910 hatte sich das in der Architektur bereits herauskristallisiert und in der Öffentlichkeit auch festgesetzt. Auch sprachlich gab es diese Korrektur: Die Altstadt galt als Ort des Übels, dort war das Böse, das Schlechte konzentriert. Deshalb war sie sprachlich bereits eliminiert worden. Aus Altstadt wurde ‚City‘. ‚City‘ war ab 1910 ein Versprechen auf eine bessere Zukunft. Wenn in der Altstadt das Nebeneinander und Übereinander auf gedrängtem Raum stattfand, also das Arbeiten, Wohnen und Handeln, war das Versprechen mit der City, dass dort lediglich noch gehandelt und verwaltet werde, nicht aber mehr gewohnt. Der große Traum lag im räumlichen Entflechten unterschiedlicher städtischer Funktionen.
dpa: Was war denn so schlecht an den alten Städten? Heute gilt es doch wieder als chic, in Städten zu leben?
Düwel: Ja, aber inzwischen haben wir ganz andere Städte, die kaum noch etwas mit den alten zu tun haben. Um 1910 gab es in den Städten eine Konzentration von Menschen und Dingen. Es gab erhebliche hygienische Mängel. Denken Sie nur an das räumliche Nebeneinander von lärmendem und rußendem Gewerbe mit Wohnen. Hinzu kam die Erwartung eines sich rasch ausbreitenden Verkehrs. Kurzum: Die bestehenden Strukturen der Städte waren als hoffnungslos veraltet begriffen worden.
dpa: Was wollten die Stadtplaner und Architekten nach dem Krieg besser machen?
Düwel: Der Zweite Weltkrieg ist nicht wirklich eine Zäsur. Die Zäsur fand zwischen 1910 und 1920 statt. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Erste Weltkrieg eine große Erosion der Gesellschaft nach sich zog. Er hat etwas hinweggefegt, das bis dahin als gottgefügt galt. Man wollte neue Städte mit einem Versprechen auf freie, fließende Räume, wo alles sich ausbreiten kann. Nach dem Ersten Weltkrieg kam im Grunde erst der Individualverkehr. Man glaubte, wenn erst mal auch nur jeder fünfte Haushalt ein eigenes Auto habe, müssten doch die Städte verstopft sein.
dpa: War das schon eine Erkenntnis nach dem Ersten Weltkrieg?
Düwel: Das war alles in den 20er-Jahren schon ausgebreitet. Und noch etwas Wichtiges: Der Erste Weltkrieg war mit Angriffen auf Städte aus der Luft zu Ende gegangen. Zur Daseinsfürsorge gehört die Vorbereitung von Schutzmaßnahmen. Kaum war der Erste Weltkrieg zu Ende, machte man sich Gedanken, wie ein nächster Krieg geführt werden könnte. Experten waren sich in ganz Europa und auch mit Amerika einig: Der kommende Krieg, der ein Luftkrieg sein wird, bedeutet das Ende der Großstädte. Deshalb stand außer Frage, die großen Städte möglichst rasch ‚lufthart‘ umzubauen. Hierzu wurde in allen Ländern intensiv geforscht.
dpa: Man wollte die Städte schöner und lebensgerechter machen. Aber warum empfinden wir sie dann heute oft als so hässlich?
Düwel: Das ist wie mit dem Blick ins eigene Familienalbum. Wenn man etwas älter ist und auf eine längere Zeit zurückblicken kann, sieht man sich in verschiedenen Moden gekleidet, und das ein oder andere Bild überschlägt man lieber, weil man sich für etwas schämt. Mal ist ein Hosenbein eng, mal ist es ausgestellt. Das ist eine Art Zeitgeist. Nur eben ist in der Stadt der Verdruss größer.
dpa: Stimmt eigentlich die These, dass die Städte nach dem Krieg für den großen Umbau einer zweiten Zerstörung anheimfielen?
Düwel: Ja natürlich. Aber allein diese Frage impliziert ja schon einen moralischen Vorbehalt.
dpa: Ja, das stimmt.
Düwel: Weil Zerstörung auch moralisch konnotiert ist. Wir Architekten sagen ‚freigeräumt‘ oder ‚Weg geebnet für das Bessere‘.
dpa: Aber es gibt ja eine Rückwärtsbesinnung. Man möchte das Verlorene gern wiederhaben. Zum Beispiel das Berliner Stadtschloss. Hat man eine Sehnsucht nach historischen Bauten?
Düwel: Ja, aber das kann man nicht verallgemeinern. Zweifellos gibt es eine verbreitete Sehnsucht nach dem Bild der alten Stadt. Das ist ein Aspekt, der in Schüben immer wieder zu beobachten ist. Ironischerweise wird heute begehrt, was unsere Großväter verteufelten. Offenbar ist stets ein größerer zeitlicher Abstand erforderlich, um Gebautes wertschätzen zu können. Hinzu kommt eine Besonderheit: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begegnete man dem Bild der Architektur gegenüber misstrauisch, wenn nicht sogar ablehnend. Seinerzeit hatte sich ein Glauben breitgemacht, der von völlig anderen Voraussetzungen ausging. Dieses geradezu militante Denken fand in der Formel ‚form follows function‘ sein Glaubensbekenntnis. Angenommen wurde, dass die Schönheit keine Rolle spiele, sondern das Erfüllen von Funktion. Vor diesem Hintergrund wird die stärkere Sehnsucht nach dem bloß Schönen verständlich. Das Schöne ist nicht selten das Nutzlose.
dpa: Das heißt, das Berliner Schloss ist nutzlos?
Düwel: Im Grunde ja. Das heißt, was reinkommt, ist nachrangig. Es geht zuvorderst um das Bild.
dpa: Das Bild muss also sein?
Düwel: Das Bild muss sein. Das heißt aber nicht, dass ich mir diese Forderung zu eigen mache.
(Das Gespräch führte Dorothea Hülsmeier/dpa)