Blinder Reigen der ungehemmten Gefühle
Mit einer musikalisch großartigen „Ermione“ werden die Tiroler Festspiele Erl unter Gustav Kuhn endgültig zu einem Rossini-Zentrum.
Von Ursula Strohal
Erl – Es ist ja kein Jugendwerk des 27-jährigen Gioachino Rossini, das da 1819 im Teatro San Carlo in Neapel unterging, „Ermione“ war seine 27. Oper. Der Komponist ließ sie nicht mehr aufführen, und auch sonst tat es niemand, bis Ende der 1980er-Jahre die Schönheit und Bedeutung des erstaunlichen Werkes erkannt wurden. Gerade auch von Gustav Kuhn, der beim Rossini-Festival in Pesaro eine Produktion mit Montserrat Caballé, Marilyn Horne, Chris Merritt und Rockwell Blake leitete (die CD des Mitschnitts gibt es noch). Am Freitag brachte er das Werk als Eröffnungspremiere der Erler Sommerfestspiele heraus. Ein musikalisches Rossini-Ereignis.
Die „Azione tragica“ mit dem Libretto von Andrea Leone Tottola basiert auf Jean Racines Tragödie „Andromaque“, und Rossini nützt deren theatergeschichtliche Neuorientierung für die Oper. Die so genannte Liebeskette greift er nicht mehr als buffoneske Handlung auf, sondern bleibt ganz und gar im Inneren der Hauptfiguren. Mögen sich die kleineren Rollenträger um Krieg, Rache und Flucht sorgen, den „Helden“ dieser Konstellation nach dem Fall Trojas geht es um ihre Gefühle, Beweggründe, Sehnsüchte. Im Rausch der Emotion des Augenblicks begeben sie sich, unberührt von Reflexion, Recherche und Weitblick, in die Abhängigkeit ihrer Leidenschaft, was zu zerstörerischer Verwirrung führt. Der fatale Reigen dreht sich um Ermione (Hermione, Tochter von Menelaos und Helena), Pirro (Pyrrhus, König von Epirus), Andromaca (Hektors Witwe) und den von den Furien verfolgten Oreste.
Pirro begehrt Andromaca, die aber dem toten Gemahl die Treue hält, und lässt dafür seine Verlobte Ermione fallen, die ihn wiederhaben will. Oreste ist blind verliebt in Ermione, sie benützt ihn für den Mord an Pirro, schnappt deswegen aber über. Am Ende sind sie tot bis auf Andromaca, die sich erst nach der erzwungenen Hochzeit mit Pirro entleiben wollte.
Rossini schreibt, vielfach in neuen formalen Zusammenhängen, eine herrliche, diffizile Inside-Musik, in der jede Linie, jede Koloratur, die Anordnung der Stimmen im Ensemble, jede Floskel Bedeutung erhält. Von Mozart lernte er Stimmungen und Umschwünge in wenigen Takten, von Gluck den Umgang mit Pathos, Ensemble-Tipps hält er für Verdi warm. Kuhn und sein Erler Festspielorchester gehen ohne Drücker so beteiligt durch die Verzweigungen der Gefühle, dass die Zuhörer – an den Reaktionen gemessen – verstehend eingefangen werden.
Auf der Bühne ein sensationelles Rossini-Ensemble, das Kuhn in seiner Akademie großgezogen hat. Maria Radoeva durchlebt die sich steigernde, ungemein kräfteraubende Titelpartie mit strahlendem Sopran, schauspielerisch zwischen Raserei, Leid und Ermiones Unsicherheit. Glanzvoll breitet Svetlana Kotinas Andromaca ihren herrlichen Mezzosopran aus. Iurie Ciobanus echter hoher Tenor für die Zumutungen der typischen Rossini-Rollen ist als Oreste eine Überraschung. Ferdinand von Bothmers Pirro beweist erneut Reife und enorme Vielseitigkeit. Hui Jin gibt dem Pilade starke Töne, Giovanni Battista Parodi dem Fenicio Autorität, Giorgio Valenta ist Attalo. Schöne Stimmen zeigen auch Maria Novella Malfatti als Cleone und Alena Sautier als Cefisa.
Die Szene in den geschmackvoll angedeuteten Bühnenbildern von Peter Hans Felzmann und den sinngemäßen, die Konkurrentinnen sexy umfließenden Kostümen von Karin Waltenberger wird nach Bedarf gestellt (Furore di Montegral), teils würdelos bewegt sich aber der Chor.