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Das „sündige Dorf“ Fallerschein gibt sich artig

Fallerschein, Tirols größtes Almdorf, besteht aus 40 Hütten.
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In Fallerschein gilt Strom noch als Luxus, und statt zu duschen, muss man sich am Brunnen waschen. Doch „retro“ ist in. Darum ist das Almdorf nahe der Gemeinde Namlos bei Wanderern wie Gästen sehr gefragt.

Von Judith Sam

Namlos –Kaum zu glauben, dass das Almdorf Fallerschein den Spitznamen „Das sündige Dorf“ trägt. Wer an den 40 Häuschen vorbeispaziert, findet nicht ein Indiz für Sünden. Im Gegenteil. Hier oben, 45 Minuten Fußmarsch von der Bundesstraße zwischen Namlos und Stanzach entfernt, erlebt man das Almleben noch in ursprünglicher Form. Vom fehlenden Handyempfang, der ungewohnten, doch angenehmen Stille bis zum Waschen am Brunnen.

„Letzteres könnte man mit ein wenig Kreativität in einen Zusammenhang mit Sünde bringen“, lacht der Stanzacher Bürgermeister Hanspeter Außerhofer. Der Spitzname habe jedoch einen anderen Ursprung: „In den 60er-Jahren gab es hier erstmals Tourismus. Deutsche Jugendgruppen mit fesche Mädl’ verbrachten ihren Sommerurlaub in Fallerschein. Darum sind die jungen Stanzacher abends gerne hier herauf auf 1300 Höhenmeter gewandert.“

Neben den 40 Hütten steht eine Kapelle im Ort.
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Auch heute ist Tirols größtes Almdorf bei jungen Einheimischen beliebt. Allerdings aus anderen Gründen. Auf der Flucht vor den Sorgen des Alltags machen sie in Fallerschein Wellnessurlaub für die Seele. Dafür eignet sich das Almdorf optimal: Kaum taucht die Sonne hinter den Bergen unter, werfen die wettergegerbten Gebäude, die Schnitzereien und Blumengebinde immer längere Schatten. Man hört nur Grillen zirpen und das Plätschern der Brunnen.

So kommt man hin: Ist das Auto in Namlos geparkt, folgt man den Wegweisern Richtung Hängebrücke. Die wurde 2014 errichtet, um den Fußweg nach Fallerschein zu erleichtern. 40 Meter Länge, schwankender Boden, darunter das zerklüftete Bachbett des Namlosbachs – die Brücke ist ein erster Höhepunkt der Wanderung, die für jeweils rund 90 Minuten hin und retour durch Nadelwälder und vorbei an Bergwiesen führt.

Hat man die Brücke passiert, schlängelt sich ein kinderwagentauglicher Weg sanft empor. Nur wenige Schritte weiter punktet die Wanderung mit Highlight Nummer zwei: Am Rande des Wegs, der inzwischen in eine Asphaltstraße übergegangen ist, sitzen drei Raben unter einem Bretterdach. Sind sie echt? Weit gefehlt: Die Attrappen sehen nur täuschend echt aus.

Auf dem Weg dorthin begegnet man drei Raben (3). Fragt sich nur, ob die echt sind.
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„Ich glaube, ein Fallerscheiner wollte sich damit einen Spaß erlauben und die Wanderer irritieren“, vermutet Günther Ennemoser. Er hat eine der Fallerschein-Hütten geerbt: „Die vermiete ich – meist übers Wochenende an Deutsche. 95 Prozent sind Stammgäste.“ Dauerhaft lebt hier niemand. Zum einen, weil das Gebiet rote Zone ist und im Winter Lawinengefahr besteht. Zum anderen wegen der spärlichen Verhältnisse.

„Ich habe heuer eine Photovoltaikanlage in die Hütte eingebaut“, plaudert Ennemoser. Strom – ein Luxusgut in Fallerschein. Fließendes Wasser gäbe es nur in den Lokalen – dem Sennerstüberl und in Michl’s Fallerscheinstube. Die sind übrigens zwischen 31. Oktober und 1. Mai geschlossen.

Folglich ist derzeit Nachsaison in Fallerschein. Trotzdem tummeln sich dort einige Wanderer. Sie picknicken und beobachten die Hüttenbesitzer dabei, wie sie kleine Sanierungen vornehmen. Holzschindeln werden ausgetauscht und neue Schnitzereien festgeschraubt.

Vom Luxus fließenden Wassers und Akkuschraubern konnten Fallerscheins Gründer nur träumen. Sie waren Bauern, die so arm waren, dass sie den Grund, auf dem Fallerschein steht, Anfang des 17. Jahrhunderts an Stanzach verkauften. Damals waren die Hütten ganzjährig bewohnt. Im Jahr 1629 änderte sich das, als der letzte verbliebene Bauer in einen der Orte abwanderte. „Fallerschein wurde danach nur im Sommer genutzt, wenn man das Bergheu mähte. Auch mein Vater musste auf den steilen Hängen arbeiten. Darum brachte er Fallerschein mit Arbeit in Verbindung und hatte keine Lust, Freizeit dort zu verbringen“, erinnert sich Stanzachs Bürgermeister.

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Den Track für die Tour finden Sie hier.

Mit dem schwindenden Interesse begann der Zahn der Zeit an den Hütten zu nagen. Mitte der 60er-Jahre waren viele schließlich vom Zerfall bedroht. Findige Deutsche arrangierten sich mit den Besitzern, liehen die Hütten für mehrere Jahre aus und renovierten sie, statt Miete zu bezahlen.

Wer das sanierte Dörfchen nach der entspannten Wanderung erreicht hat, sollte nicht auf einen Besuch der 1844 errichteten Kapelle „Maria zum guten Rate“ verzichten.

Apropos guter Rat: Eine Wanderung nach Fallerschein gilt unter Einheimischen als Alternative zum Therapeutenbesuch. Man habe Zeit, die Gedanken zu ordnen, Ruhe zu finden und Kraft zu tanken. Drei Effekte, die eine Therapie erst mal erzielen muss.

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