Jüdische Exilautorin Segal: Migrationskrise für Kinder „entsetzlich“

Wien (APA) - Die jüdische Autorin und Literaturprofessorin Lore Segal musste 1938 als Zehnjährige mit einem Kindertransport von Wien nach Gr...

Wien (APA) - Die jüdische Autorin und Literaturprofessorin Lore Segal musste 1938 als Zehnjährige mit einem Kindertransport von Wien nach Großbritannien flüchten. In der aktuellen Migrationskrise sieht sie manche Parallelen zu eigenen Erfahrungen, so die 90-Jährige, die in den USA zur preisgekrönten Schriftstellerin und Journalistin avancierte. Am Donnerstag wird ihr in Wien der Theodor Kramer-Preis verliehen.

Die Einladung zur Verleihung der Auszeichnung für Schreiben im Widerstand und Exil wurde vom Jewish Welcome Service Vienna unterstützt, der intensiven Kontakt mit jüdischen Exilanten pflegt. Segal wird zudem anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Österreichischen Exilbibliothek und des damit verbundenen Buch- und Ausstellungsprojektes „Küche der Erinnerung - Essen & Exil“ am Mittwoch eine Lesung im Literaturhaus Wien halten. Im APA-Interview spricht sie über ihre Anfänge als Schriftstellerin, Kinder auf der Flucht und den Geschmack von Kaiserschmarrn.

APA: Sie haben 1938 als Zehnjährige Österreich verlassen. Inwiefern hat Sie das zum Schreiben bewogen?

Lore Segal: In England waren die Cohens in Liverpool meine erste Pflegefamilie. Natürlich haben sie gewusst, was in Österreich vorgeht, sonst hätten sie mich ja nicht angenommen. Aber mir war es, als ob sie nicht verstünden, was eigentlich los war. Da habe ich ein kleines Notizbuch genommen und angefangen, über das letzte Jahr in Wien zu schreiben. Das war der Impetus: Bezeugen zu können, was da vor sich ging. „Wo andere Leute wohnen“ (Segals erster Roman, Anm.) war dann die erwachsene Version dessen, was ich als Zehnjährige geschrieben hatte.

APA: „Wo andere Leute wohnen“ behandelt ihre eigenen Erfahrungen und hat mit der Migrationskrise neue Aktualität gewonnen. Wie beurteilen Sie die aktuelle Migrationspolitik der westlichen Staaten?

Segal: Deutschland hat sich ziemlich gut benommen. Aber ich weiß da auch keine Antwort. Ich denke darüber nach und es ist entsetzlich, was passiert. Ich kann mir nur vorstellen, was es besonders für die Kinder bedeuten muss. Es ist anders als damals bei mir und in bestimmter Hinsicht schlimmer. Wir hatten eine Organisation, die uns nach England gebracht hat. Diese Kinder heute sind allein und werden irgendwo hingebracht. Man kann sich das gar nicht vorstellen. Wenige wissen außerdem, dass mit einem Wiedersehen mit den Eltern nicht alles wieder großartig und wunderbar ist. Ich kann das nur schwer beschreiben, aber wenn man etwas vermisst hat, aber in der Zwischenzeit so viel passiert ist und man dann wieder vereint wird, ist das gar nicht so leicht. Der Schaden ist schwer wieder gutzumachen.

APA: Bei der Ausstellungseröffnung von „Küche der Erinnerung - Essen & Exil“ halten Sie eine Lesung. In ihrer Kurzgeschichtensammlung „Shakespeare‘s Kitchen“ spielt alles in der Küche. Ist dieser Raum für Sie ein zentraler Aspekt von Zivilisation, Gemeinschaft und somit auch ihrer eigenen Identität?

Segal: Das ist mir bisher nicht bewusst gewesen, aber es stimmt. Meine Mutter hat erzählt, dass ich als kleines Kind mit allem möglichen gekommen bin und gefragt habe, ob man das essen kann. Ein kleines Kind nimmt doch alles in den Mund. Als Kind lernt man die Welt kennen, indem man es in den Mund nimmt und schmeckt. Das ist eine tiefe Wahrheit.

APA: Versuchen Sie, gerade in Bezug aufs Essen, die österreichischen Traditionen auch in den USA zu leben?

Segal: Oh natürlich. Ich sage immer, dass ich eine österreichische Jüdin bin, die in England ausgebildet wurde und in den USA lebt. Man kann das nicht auseinanderreißen. Das ist alles wahr und bestimmt meine Erfahrungen. Ich habe für die Ausstellung eine kleine hölzerne Kiste mit den Rezepten meiner Mutter dabei. Das sind fast alles österreichische Rezepte. Ich lebe das schon auch. So nehme ich auch immer einen kleinen Teil Österreich mit. Gestern Abend habe ich mir Kaiserschmarrn bestellt, um das wieder zu erleben. Wenn man etwas isst, wird es manchmal so wichtig, dass man für den Rest seines Lebens versucht, es zu reproduzieren, aber man schafft es nie mehr, weil man die Umstände nicht nachstellen kann. Der Kaiserschmarrn schmeckt nur so wie er schmeckt, weil man davor drei Stunden lang den Berg hinaufgegangen ist.

APA: Freuen Sie sich, wieder in Österreich zu sein?

Segal: Ehrlich gesagt bin ich jedes Mal, wenn ich in Wien bin, aufgeregt. Am liebsten habe ich den Wiener Dialekt. Den liebe ich wirklich. Aber nach einiger Zeit will ich dann auch zurück nach New York. Ich kann mich nicht völlig wohlfühlen. Ich verbinde mit Wien im Kopf keine negativen Erfahrungen, aber die Nerven haben es nicht vergessen. Ich glaube, dass es so den Schwarzen in den USA geht. Es gibt da immer etwas, das man nicht vergessen kann. Als ich vom Flughafen kam, hat mich der Taxifahrer gefragt, warum ich so gut deutsch spreche. Ich sagte ihm, dass ich in Wien geboren wurde, woraufhin er mich fragte, ob ich ausgewandert sei. Das bin ich ja nicht direkt.

APA: Wir erleben gerade in vielen Staaten einen politischen Rechtsruck. Wie beurteilen sie das?

Segal: Das macht mich unglücklich und ich fürchte mich. Ich habe mir schon gedacht, dass es gut ist, in dieser Zeit alt zu sein. Falls so etwas wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederkommt, muss man sich dann nicht mehr fürchten. Das ist zwar nicht sehr ernst gemeint, aber es stimmt schon, dass man da nicht wieder mitspielen will. Es ist ein mulmiges Gefühl.

APA: Sie verwenden in Ihren Werken trotz der ernsten Themen einen subtilen Humor. Woher kommt das?

Segal: Das kommt von selbst, das mache ich nicht bewusst. Das ist ja eine Art über die Welt zu denken. Es ist sowohl lächerlich als auch desaströs. Das Grauen und der Humor liegen nah beieinander. Es gibt Menschen, die an eine große Umwälzung glauben, nach der dann alles besser wird. Andere glauben, dass seit dem Garten Eden alles immer schlimmer wird. Ich glaube, dass es schon immer irgendwie grauenhaft und wunderbar war. Ich denke nicht, dass wir unsere Probleme lösen können. Aber auch als 90-Jährige finde ich das Leben hochinteressant.

(Das Interview führte Martin Auernheimer/APA)

(S E R V I C E - „Küche der Erinnerung - Essen & Exil“ Ausstellungseröffnung und Buchpräsentation am 26. September, 19 Uhr im Literaturhaus Wien, Zieglergasse 26a, 1070 Wien www.literaturhaus.at )