Ein Hauch von Tahrir: Revolutionen in Nordafrika gehen weiter

Khartum/Algier (APA/dpa) - Die junge Sudanesin steht auf einem Sockel über der Menge auf einem großen Platz vor der Militärzentrale im Zentr...

Khartum/Algier (APA/dpa) - Die junge Sudanesin steht auf einem Sockel über der Menge auf einem großen Platz vor der Militärzentrale im Zentrum von Khartum. Ein weites, weißes Tuch um Kopf und Körper geschlungen, immer wieder rutscht es von den schwarzen Haaren, als sie euphorisch von Freiheit singt, wie ein Vorsänger im Stadion. Die Menge antwortet nach jedem Satz mit einem Wort: „Revolution“ („Thawra“).

Die Bilder von den Massenprotesten im Sudan, die einem Militärputsch vorausgegangen waren, erinnern stark an den Jänner 2011: Damals standen Hunderttausende auf dem zentralen Tahrir-Platz („Platz der Befreiung“) in Kairo und forderten den Sturz des Regimes von Hosni Mubarak. Zuvor zogen schon in Tunis Zehntausende junger Menschen über die zentrale Prachtstraße und stürzten Langzeitherrscher Zine el-Abidine Ben Ali nach 23 Jahren an der Spitze des Staates. Einige Beobachter sprechen schon von einem „Arabischen Frühling 2.0“.

Die Revolutionen damals wurden in aller Welt als „Arabischer Frühling“ gefeiert. Doch als dann in Syrien ein blutiger Bürgerkrieg ausbricht, der bis heute genau so andauert wie der Krieg im Jemen und in Libyen, und als nach der anfänglichen Euphorie der erste demokratisch gewählte Präsident Ägyptens durch einen Militärputsch gestürzt wird, werden schnell die Bilder vom „Arabischen Winter“ oder von der „gescheiterten Revolution“ bemüht.

Fast zehn Jahre später kommt es wieder zu Protesten: Im Sudan und in Algerien werden nach 30 und 20 Jahren die Langzeitmachthaber Omar al-Bashir und Abdelaziz Bouteflika gestürzt. Auch in Marokko und in Jordanien gibt es immer wieder Demonstrationen gegen die staatliche Führung.

„Das Bild vom Frühling passt so nicht, weil es auf schnelle Entwicklungen setzt“, sagt Nahost-Experte Loay Mudhoon von der Deutschen Welle. „Wir sagen in Europa schnell, dass die arabischen Aufstände gescheitert sind, aber das sind epochale Umwälzungsprozesse. Das ist nur ein Wimpernschlag, wo wir in Jahrzehnten denken müssen.“ Der Politik- und Islamwissenschaftler beobachtet die Umbrüche in der arabischen Welt, im Nahen Osten und Nordafrika, seit Beginn an. „Ich finde, der Begriff „Revolution der Würde“ bringt es besser auf den Punkt“, sagt Mudhoon. „Die Menschen sind die Verhältnisse, die Perspektivlosigkeit und die korrupten Eliten leid.“

Die aktuellen Protestbewegungen hätten ihre Auslöser jeweils in nationalen Problemen gehabt: Eine fünfte Amtszeit in Algerien, der Tod eines Fischhändlers in Marokko, Lebensmittelpreise im Sudan und in Jordanien. „In allen Ländern liegen dahinter aber strukturelle Probleme“, sagt Politikwissenschaftler André Bank vom GIGA Institut für Nahost-Studien. „Das sind Probleme, die schon 2005 flächendeckend festgestellt wurden und man kann sich fragen, wieso erst nach und nach Proteste ausbrechen.“

Die Probleme seien in vielen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens nämlich ähnlich: Teilweise bis zur Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 25 Jahre. Viele Jugendliche sind gut ausgebildet, aber perspektivlos. Die Länder kämpfen mit wirtschaftlichen Problemen, sie werden häufig von korrupten Eliten regiert, die sich vom Volk entfremdet haben. „Alle diese Länder sind eigentlich reif für Revolutionen“, sagt Bank.

In Algerien beginnen die Proteste Mitte Februar dieses Jahres. Nach fast 20 Jahren im Amt verkündet Abdelaziz Bouteflika, für eine fünfte Amtszeit kandidieren zu wollen. Der Mann, der seit Jahren kaum noch öffentlich auftritt und in Karikaturen als Gespenst dargestellt wird. „Da haben sich die Menschen nicht ernst genommen gefühlt“, sagt Politikwissenschaftler Bank.

Im Sudan fing alles mit der miserablen Wirtschaftslage an. Brot- und Benzinsubventionen wurden Ende vergangenen Jahres gekürzt, Preise schossen in die Höhe. Tausende strömten auf die Straßen. Doch die Wut gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung richtete sich bald gegen den Präsidenten selbst. Auch die negativen Ereignisse nach den Protesten in Syrien und dem Jemen und der Gegenrevolutionen in Libyen und Ägypten halten die Menschen in Nordafrika derzeit nicht davon ab, auf die Straße zu gehen.

Denn trotz aller Umbrüche und eingeleiteten Reformen kam auch eine großangelegte Jugendstudie der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung zu dem ernüchternden Ergebnis, dass sich die Aufstiegschancen der Jugendlichen im Nahen Osten nicht verbessert haben. Zusätzlich befinde sich die arabische Mittelschicht in Auflösung. Auch im „Mutterland des Arabischen Frühlings“ - in Tunesien - gibt es weiterhin regelmäßig Demonstrationen. Denn trotz erfolgreicher politischer Reformen kämpft das Land weiterhin mit großen wirtschaftlichen Problemen.

Getrieben werden die Proteste nicht von Parteien oder Gewerkschaften, sondern von Studenten, Ärzten, Anwälten - oder von Menschen, die sich zurückgesetzt fühlen, wie die Berber in Marokko und Algerien.

„Der arabische Raum hat keinen Nelson Mandela, es gibt keine organisierte Opposition und die zivilgesellschaftlichen Strukturen sind schwach“, sagt Nahost-Experte Loay Mudhoon. Aber im Sudan hat sich eine junge Frau als Symbol der Freiheit herausgestellt: Alaa Salah. Die Frau mit dem weißen Gewand. „Die Freiheitsstatue von Khartum“, wie sie auch einige bezeichnen.