TT-Interview

Abraham Gafni: „Ich würde nie zurückkommen“

Abraham Gafni wurde 1928 als Erich Weinreb in Innsbruck geboren.
© TT/Andreas Rottensteiner

Abraham Gafnis Familie wurde in den NS-Vernichtungslagern umgebracht. Er selbst flüchtete 1938 als zehnjähriger Bub aus Österreich nach Palästina. Die TT traf ihn zum Gespräch.

Innsbruck – „Hiden im Tor, Sesta hinten links, davor Adi Vogl, Matthias Sindelar in der Mitte“: Die Aufstellung des legendären österreichischen „Wunderteams“ hat Abraham Gafni noch heute im Kopf. Und auch über die jüngsten Erfolge der Fußball-Nationalmannschaft ist der 87-Jährige informiert. „Tabellenführer“, sagt er und ist überzeugt: würde das Österreich heute gegen Israel spielen, der Sieger hieße Österreich. Anfeuern würde er allerdings die Israelis.

Als Erich Weinreb wurde Abraham Gafni 1928 in Innsbruck geboren. Zusammen mit seinem seinem Bruder flüchtete er zehn Jahre später vor den Nazis nach Palästina. Alle anderen Mitglieder der Familie Weinreb wurden in den Vernichtungslagern ermordet.

Wie haben Sie sich bei ihrem ersten Innsbruckbesuch nach dem dem Krieg gefühlt?

Abraham Gafni: Das war 1963. Aus dem Kind, dass wie der Großteil aller Innsbrucker Juden zunächst nach Wien deportiert wurde und dann flüchten musste, war ein Erwachsener geworden. Trotzdem war es natürlich seltsam. Wir kamen vom Brenner herunter und alles hat genauso ausgeschaut wie 25 Jahre vorher. Dass die Stadt bombardiert wurde und vieles neu aufgebaut werden musste, habe ich erst später erfahren.

Zorn verspürten Sie keinen?

Gafni: Was soll ich sagen? Ungefähr ein Jahr nach Ende des Krieges war klar, dass meine Familie tot war. Wir wusste damals zwar noch nicht, wie meine Großeltern, meine Schwester, die Onkeln und Tanten ums Leben kamen, aber sie waren tot. Erst Jahrzehnte später wurden die Archive geöffnet. Heute weiß ich wann und wo meine kleine Schwester umgebracht wurde. Natürlich hat mir dieses neue Wissen viele schlaflose Nächte bereitet.

Als Sie 1938 aus Österreich flüchteten, waren Sie zehn Jahre alt. Ihr Bruder Leopold war acht. Sie haben sich allein auf den Weg nach Palästina gemacht. Das klingt unvorstellbar.

Gafni: Es ist erstaunlich ja. Wenn man über eine stark befahrene Straße geht, nimmt man einen Zehnjährigen an der Hand. Aber es ist etwas anderes wenn man gehen muss. Es gab keinen anderen Ausweg, es ging ums Überleben. Auch wenn wir das damals nicht wussten.

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Welche Erinnerungen haben Sie an die Flucht?

Gafni: Sie fragen einen Erwachsenen danach, wie er als Kind die Welt wahrgenommen hat. Ich war ein verwöhntes Kind und hatte eine Aufgabe: Ich musste auf meinen kleinen Bruder aufpassen. Als klar war, dass sich wenigstens uns beiden die Möglichkeit zum Gehen bot, sind wir gegangen.

Hatten Sie keine Angst?

Gafni: Es gab keinen Grund zur Angst. Wir waren Kinder und haben die Reise eher als etwas Aufregendes empfunden. Wir waren ja nicht allein. Über 900 Menschen waren auf dem Boot das uns nach Palästina brachte. Wenn wir fragen hatten, war immer jemand da, der uns antworten konnte. Palästina. Wir wussten ja nicht einmal was und wo das war. Es hätte auch der Mond sein können. Vielleicht gab es eine Ahnung dafür, dass wir gefährdet waren. Aber vielleicht spricht da auch der Erwachsene, der sich sagt, irgendetwas musst du mitgekriegt haben.

Den zusehends aggressiver Werdenden Antisemitismus in Tirol haben Sie aber mitgekriegt.

Gafni: Zunächst nicht. Erst als ein neuer Lehrer mich als „kleine Judensau“ begrüßte und Schläge und Drangsalierungen zunahmen, wurde mir klar, dass sich etwas änderte. Aber wirklich verstanden habe ich es nicht. Es ist auch unverständlich: Wir reden von einer Zeit, in der Erwachsene Angst vor Kindern hatten.

Inwiefern?

Gafni: Kinder konnten gewollt oder ungewollt denunzieren. Der Vater schimpft über Hitler oder lässt dich nicht zur Hitlerjugend gehen, du erzählst es jemandem – und für den Vater wird es lebensgefährlich. Es war eine Zeit in der alles verkehrt war. Für mich gab es damals drei Möglichkeiten: Die große Mehrheit war für Hitler, ein kleiner Teil der Bevölkerung war vielleicht gegen die Nazis, hat aber aus Angst geschwiegen und die wenigen, die etwas dagegen gesagt haben, riskierten ihr Leben.

Mit rassistischen Parolen lassen sich in Österreich auch heute noch Wahlerfolge feiern.

Gafni: Überrascht Sie das? Es ist einfach und beruhigend, anderen die Schuld zu geben. Es gibt auch heute noch Menschen, die die Shoah leugnen. Auch offenen Antisemitismus gibt es noch. Denken Sie an Frankreich. Unser Glück ist letztlich, dass wir heute mit Israel ein Land haben. Bei den Nazis gab es einen Slogan: „Jud nach Palästina“. Das sag ich heute auch. Ich bin gern in Innsbruck zu Besuch, gern auch jedes Jahr, ich habe Freunde hier, aber ich würde nie zurückkommen.

Warum nicht?

Gafni: Ich bin überzeugt: Gäbe es hier mehr Juden, gäbe es auch mehr Antisemitismus.

Als Zeitzeuge halten Sie zur Zeit regelmäßig Vorträge über ihre Erfahrungen...

Gafni: Keine Vorträge, ich erzähle. Ich erzähle davon was einmal möglich war und noch heute jederzeit möglich ist. Und ich beantworte Fragen. Es wundert mich, dass, obwohl soviel über diese Zeit geschrieben wurde, immer noch Fragen gestellt werden.

Vielleicht, weil man es sich trotzdem nicht vorstellen kann.

Gafni: Vielleicht. Als ich einmal mit meiner Frau in einem Innsbrucker Kaffeehaus saß und Hebräisch sprach, fragte mich eine junge Kellnerin nach unserer Herkunft. „Wir kommen aus Israel aber ich war von hier“, sagte ich und dass ich von den Nazis vertrieben wurde. Dass es dieses Vertreibung auch in Innsbruck gegeben hat, wusste sie nicht.

Das Gespräch führte Joachim Leitner

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