Gesundheit

Die Zahnspange zum Nulltarif

Das Gebiss der Kinder soll nicht den Kontostand der Eltern zeigen: Seit Kurzem können Kieferorthopäden die Gratiszahnspange anpassen. Zahnärztevertreter erklären die Details.

Von Elke Ruß

Innsbruck –Mit 1. Juli hat Österreich die „Gratiszahnspange“ eingeführt. Was die politische Entscheidung praktisch bedeutet, erläutern der Präsident der Tiroler Zahnärztekammer, Wolfgang Kopp, und Kieferorthopädie-Referent Clemens Manhartsberger.

1 Wer bekommt die Gratiszahnspange? – Sie gilt für Zwölf- bis 18-Jährige, inkludiert sind aber nur schwerste Fehlstellungen (Stufen 4 und 5 auf einer Skala von 0 bis 5). Das umfasst rund 30 Prozent der behandlungsbedürftigen Fälle – für Tirol hochgerechnet 1600 im Jahr.

2 Wie viele Kieferorthopäden passen in Tirol die Gratiszahnspange an? – Es gibt 16 Vertragskieferorthopäden: je drei für Innsbruck-Stadt und -Land, je zwei für die Bezirke Schwaz, Kufstein und Kitzbühel und je einen für die Regionen Imst und Landeck. Im zweiten Anlauf konnte auch in Osttirol und im Außerfern je ein Vertragskieferorthopäde gefunden werden. Kopp hebt die konstruktiven Verhandlungen mit der Gebietskrankenkasse hervor und lobt die „flächendeckende Versorgung“.

3 Wie wurde ausgewählt? – Jeder Kandidat wurde von einer Expertenkommission geprüft. Sie bestand aus Walter Küng (Ex-Chefzahnarzt der Vorarlberger Gebietskrankenkasse), Adriano Crismani (Chef der Kieferorthopädie an der Innsbrucker Klinik) und Manhartsberger. Neben Aus- und Fortbildungsnachweisen mussten die Kandidaten „20 Multi-Bracket-Fälle einreichen, die in den vergangenen drei Jahren beendet wurden“. Der Level in Tirol sei hoch, betont Manhartsberger. „Kein Patient muss Angst haben, dass er schlecht behandelt wird.“ Patienten können auch zu einem zertifizierten Wahl-Kieferorthopäden gehen. Es gelten dieselben Prüfkriterien, man bekommt aber nur 80 Prozent der Kosten der Gratiszahnspange ersetzt.

4 Was umfasst die Gratiszahnspange? – „Sie hat Metallbrackets und umfasst die Brackets und den Bogen“, stellt Kopp klar. Andere Systeme bzw. Leistungen gegen Aufzahlung sind nicht vorgesehen. „Wenn jemand kosmetische Brackets will, dann ist es keine Gratisspange mehr.“

5Was ist mit Grenzfällen? Gibt es eine Zweitmeinung? – Die Einstufung macht der Kieferorthopäde. Wer bereits bei einem Vertragsarzt war, ist gesperrt. „Er kann noch zu einem Wahlkieferorthopäden gehen“, erklärt Manhartsberger. Grenzfälle gebe es nicht, die Stufen seien „klar definiert“.

6 Wie lange beträgt die Wartezeit? – Viele Eltern haben nach der Ankündigung der Gratiszahnspange zugewartet, es gibt einen Rückstau. Rückmeldungen, wie lange man auf einen Behandlungsbeginn warten muss, hat Kopp noch keine. „Ich schätze aber, dass ein erster Termin für eine Erstberatung überall binnen sechs bis acht Wochen möglich ist.“ Manhartsberger rechnet damit, dass ein Vertragskieferorthopäde zwischen 70 und 130 Neufälle im Jahr annehmen kann – unter den Kolleginnen seien erziehende Mütter.

7 Schulwechsel, Internat, Umzug durch die Scheidung der Eltern: Kann man die Behandlung woanders fortsetzen? – „Eine Übergabe ist immer ein Problem“, sagt Manhartsberger, ein Wechsel sei im Prinzip „ein Abbruch einer Methode. Vermutlich wird man das Gerät entfernen und ein neues machen.“ Brackets können sich lösen, ein Draht kann stechen – der Behandler sollte gut erreichbar sein. Ist klar, dass ein Orts­­wech­sel ansteht, dann sollte man mit der Gratiszahnspange gleich dort beginnen. Muss ein Bracket-Träger weiter wegziehen, werde man „im Individualfall mit der Krankenkassa eine Lösung suchen“, sagt Kopp.

8 Wenn gratis zu „nichts wert“ mutiert oder ein pubertierendes Kind die Zahnspange bestreikt: Gibt es eine zweite Chance? – Nein. Mit der Spange sind Prophylaxe und Zahnhygiene viel schwieriger. Perfekt sanierte Zähne und eine sorgfältige Mundhygiene seien Voraussetzungen, sonst reguliere man faule Zähne. Kopp: „Wenn ein Patient nicht mitmacht, hat der Arzt das Recht, die Kassa anzurufen. Nach dreimaliger Verwarnung kann er die Behandlung abbrechen.“

9 Warum sind die Tiroler Spezialisten mit der Regelung unzufrieden? – Durch das Startalter mit zwölf werde die erste Behandlungsphase nur stiefmütterlich behandelt, beklagt Manhartsberger. Wenn man die Einstellung der Kiefer zwischen dem siebten und zehnten Lebensjahr nicht mit einer Kombination aus fest sitzenden und abnehmbaren Apparaten gut ausnutze, könne man mit 13 teils „nicht mehr alles erreichen. Oft kann man nur noch kieferchirurgisch und -orthopädisch etwas erreichen.“

10 Wieso hätten die Zahnärzte lieber einen Selbstbehalt gesehen? – Egal, wie hoch das Einkommen der Eltern ist: Die Gratiszahnspange gilt für jedes Kind mit Stufe 4 bzw. 5. „Wir hätten lieber einen Ausbau des Bezuschussungssystems gehabt“, betont Manhartsberger. Motto: Ein Selbstbehalt für jeden, aber in Härtefällen greift der Sozialfonds. „Dann hätte man auch die Stufe 3 mit hineinnehmen können.“ Das wären gleich 40 Prozent weitere Fälle mit Behandlungsbedarf. „Wir hätten also 70 Prozent und eine soziale Staffelung.“

11Wie geht es weiter? – In einem Jahr will man Bilanz ziehen, „ob es sich ausgeht oder ob man mehr Vertragsärzte braucht“. Kopp ortet noch Spielraum. Laut Manhartsberger wird derzeit mit der KUF (Kranken- und Unfallfürsorge des Landes) verhandelt, „um die erste Behandlungsphase aufzuwerten. Das könnte die Grundlage für eine Nachbesserung des Vertra ges sein.“

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