NATO wirft Moskau Vorsatz bei Verletzung von Luftraum der Türkei vor

Brüssel/Moskau/Ankara (APA/dpa/Reuters/AFP) - Die NATO geht davon aus, dass Russland am Wochenende vorsätzlich den Luftraum des Bündnispartn...

Brüssel/Moskau/Ankara (APA/dpa/Reuters/AFP) - Die NATO geht davon aus, dass Russland am Wochenende vorsätzlich den Luftraum des Bündnispartners Türkei verletzt hat. „Für uns sah das nicht wie ein Versehen aus“, sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg am Dienstag in Brüssel zu entsprechenden Erklärungen aus Moskau. Im Vergleich zu früheren Verletzungen des NATO-Luftraumes in Europa habe der Vorfall lange gedauert.

Berichte, wonach ein russisches Kampfflugzeug im türkischen Luftraum sogar sein Radar zur Zielerfassung nutzte, wollte Stoltenberg nicht kommentieren. Es sprach allerdings von einer schwerwiegenden Verletzung und warnte, solche Vorfälle könnten zu gefährlichen Situationen führen. „Das ist genau das, wovor wir Angst haben“, sagte der Norweger.

Nach seinen Angaben wird die NATO die Zwischenfälle auf militärischer Ebene mit russischen Gesprächspartnern thematisieren. Warum die russischen Flugzeuge in den türkischen Luftraum geflogen sein könnten, ließ der Generalsekretär offen. „Ich werde über Motive nicht spekulieren“, sagte er.

Nach Angaben der NATO kam es sowohl am Samstag als auch am Sonntag zu Verletzungen des türkischen Luftraumes durch russische Kampfflugzeuge vom Typ SU-30 and SU-24. Sie ereigneten sich in der Region Hatay. Diese liegt an der Grenze zum Bürgerkriegsland Syrien, in dem Russland seit der vergangenen Woche Luftangriffe fliegt. Aus NATO-Kreisen hieß es, das Einschalten von Radargeräten zur Zielerfassung könne gerade im Fall einer Luftraumverletzung eine Eskalation bis hin zu einem Abschuss provozieren.

Russland warf der NATO seinerseits vor, aus einem Versehen politischen Profit schlagen zu wollen. Der Westen nutze den Vorfall aus, um die Ziele des russischen Militäreinsatzes in Syrien verfälscht darzustellen, zitierte die Nachrichtenagentur Tass den russischen NATO-Botschafter Alexander Gruschko.

Stoltenberg dagegen erklärte, die Militärallianz habe aus Moskau „keine wirkliche Erklärung“ dafür erhalten, was geschehen sei. Er forderte Russland auf, den Luftraum der Türkei nicht noch einmal zu verletzen.

Die NATO beobachte einen beachtlichen russischen Militäraufmarsch in Syrien, sagte Stoltenberg. Dies gelte für die Luftwaffe, die Flugabwehr, aber auch die Bodentruppen am russischen Luftwaffenstützpunkt in Syrien. Auch die russische Marine sei verstärkt präsent in der Region.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan warnte Moskau vor einem Bruch der Freundschaft. „Es ist bekannt, dass wir eine gute Beziehung zu Russland haben“, sagte Erdogan am Dienstag bei einem Staatsbesuch in Belgien. „Aber wenn Russland einen Freund wie die Türkei verliert, mit dem es bei vielen Themen zusammenarbeitet, dann ist das ein großer Verlust“, erklärte Erdogan. Wer die Türkei angreife, greife auch die NATO an.

Russland steht im syrischen Bürgerkrieg, in dem bisher rund 250.000 Menschen getötet wurden, gemeinsam mit dem Iran auf der Seite von Präsident Bashar al-Assad. Russische Kampfjets starteten in der vergangenen Woche Luftangriffe in Syrien. Den Einsatz von Bodentruppen in dem Bürgerkrieg hat der russische Präsident Wladimir Putin ausgeschlossen.

Die russische Regierung prüft unterdessen den Vorwurf, dass am Sonntag ein zweiter Kampfjet während des Einsatzes über Syrien in den türkischen Luftraum eingedrungen sei. Dies meldete die russische Nachrichtenagentur Tass unter Berufung auf die russische Botschaft in Ankara. Das Verteidigungsministerium in Moskau hatte bereits bestätigt, dass ein russischer Kampfjet am Samstag versehentlich für ein paar Sekunden in den türkischen Luftraum eingedrungen sei.

Auslöser für den Vorfall sei schlechtes Wetter gewesen. Es gebe damit keinen Anlass, an Verschwörungstheorien zu stricken, erklärte das Ministerium. Russland wies auch den türkischen Vorwurf zurück, einer der Jets habe die beiden Abfangjäger mit dem Zielradar erfasst.

Ankara ist durch die russischen Einsätze gegen Assad-Gegner in Syrien alarmiert. Als Folge könnte sich das militärische Gleichgewicht in dicht besiedelten Regionen des Bürgerkriegslandes verschieben, sagte Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus am Dienstag der Zeitung „Hürriyet Daily News“. Sollten die syrischen Regierungstruppen dank der russischen Hilfe den Druck auf gemäßigte Rebellen verstärken können, werde dies einen neuen Exodus von Flüchtlingen auslösen: einen Zuzug in die Türkei „von mehreren hunderttausend, vielleicht von mehr als einer Million Menschen“. Die Türkei hat schon zwei Millionen Syrer aufgenommen.

Russische Kampfflugzeuge weiteten unterdessen ihre Angriffe in Syrien auf die vom „Islamischen Staat“ (IS) eroberte Antikenstadt Palmyra aus. Bei den mit Damaskus abgestimmten russischen Angriffen auf IS-Ziele „in und um Palmyra“ seien gepanzerte Fahrzeuge, Waffendepots und Raketenwerfer zerstört worden, verlautete am Dienstag vonseiten des syrischen Militärs.

Die IS-Extremisten hatten das zum UNESCO-Welterbe zählende Palmyra im Zentrum Syriens Ende Mai erobert und seither zahlreiche weltberühmte Stätten dort in die Luft gesprengt. Nach Angaben der in London ansässigen oppositionsnahen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte flogen russische Kampfjets seit Montag 30 Angriffe gegen IS-Ziele in Palmyra. Dabei seien 15 Extremisten getötet worden. Vier weitere russische Angriffe hätten der IS-Hochburg Raqqa gegolten. Die Beobachtungsstelle stützt sich auf ein dichtes Netz an Informanten in Syrien. Ihre Angaben sind von unabhängiger Seite kaum zu überprüfen.

Bei den russischen Angriffen in Syrien seit dem 30. September sei es bisher darum gegangen, die Verbindungslinien zwischen den Aufständischen in den Provinzen im Zentrum, im Norden und im Westen zu kappen, sagte ein hoher syrischer Militärvertreter. Er bestritt Berichte, wonach eine gemeinsame Bodenoffensive der Truppen von Assad mit der Hisbollah und iranischen Milizen unmittelbar bevorstehe. „Jetzt ist die Zeit der russischen Luftangriffe“, sagte er gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.

~ WEB http://www.nato.int/ ~ APA433 2015-10-06/14:58