Nahost-Konflikt

Experte im TT-Interview: Israels fortgesetzte Landnahme

Die Wut bei den Palästinensern über die israelische Landnahme im Westjordanland kocht derzeit wieder massiv hoch.
© REUTERS

Nahost-Experte Helmut Krieger über die Attentatswelle und die Untätigkeit des Westens.

Was steht hinter der Eskalation der Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern?

Helmut Krieger: Es gibt dazu sehr unterschiedliche Narrative. Die israelische Regierung und viele Medien in Israel gehen davon aus, dass es sich (bei den Attentätern) um „einsame Wölfe“ handelt. Tendenziell verstehen sie das als Bestätigung der Irrationalität der Palästinenser. Damit sind die Attentate nicht mehr in einen historischen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhang eingebettet.

Das andere Narrativ — von palästinensischen Intellektuellen und Medien — erzählt von der Hoffnungslosigkeit einer neuen Generation, für die der Frieden von Oslo nichts gebracht habe, von der schwierigen sozialen Situation, der andauernden Besatzung usw.

Welcher Sichtweise hängen Sie selbst an?

Krieger: Aus meiner Perspektive geht es erstens um die Frage der Besatzung — um das Vorgehen einer Okkupationsarmee und die Expansion von Siedlungen. Zweitens geht es um das, was als Scheitern des Oslo-Prozesses verstanden wird. Er war als Friedensprozess definiert, eigentlich aber ein Konfliktregulierungs-Mechanismus — und ist jetzt ans Ende gekommen. Drittens geht es um eine politische Situation, die von Kriegen im arabischen Raum geprägt ist. Das bedeutet, dass die internationalen Akteure wenig Interesse haben zu intervenieren, sondern auf die Situation in Syrien und im Irak, auf Fluchtbewegungen und jihadistische Formationen konzentriert sind.

Welche Strategie verfolgt die israelische Regierung?

Krieger: Der grundlegende Ansatz der israelischen Regierungen war und ist, die verschiedenen Formen von palästinensischem Widerstand und Terrorismus einzudämmen, um damit in den besetzten Gebieten eine systematische Expansion durch Siedlungen zu erreichen. Da gibt es also eine Kontinuität; die Regierungen versuchen nur, diese Strategie taktisch-operativ anzupassen.

Wenn eine israelische Regierung die Besatzung nicht als solche anerkennt, dann bedeutet das auch, dass sie aus ihrer eigenen Perspektive nicht dazu verpflichtet ist, internationales Recht anzuwenden. Es handelt sich dann gleichsam um einen legitimen Prozess der Landnahme. Das ist eine der grundlegenden Linien innerhalb der Likud-Partei von Premier Benjamin Netanjahu.

Wie sieht es auf der anderen Seite aus? Verfügt die Palästinenserführung noch über Legitimität und Kontrolle?

Krieger: Von einem liberaldemokratischen Standpunkt her hat sie keine Legitimität mehr. Es hätte schon längst Wahlen geben müssen. Kontrolle ist ein ambivalenter Punkt. Die Autonomiebehörde hätte zwar operativ die Möglichkeit, die Demonstrationen einzudämmen — aber um den Preis, politisch noch weiter an Legitimität zu verlieren und selbst zum Ziel von Protesten zu werden.

Was bedeuten die fortgesetzte Landnahme auf israelischer Seite und die Schwäche der Palästinenserführung für die weitere Entwicklung?

Krieger: Es bedeutet, dass wir uns in Zyklen der Konfrontation bewegen — wie schon seit einigen Jahren. Natürlich gäbe es die Möglichkeit, aus diesen Zyklen auszubrechen. Aber die israelische Regierung hat die Zeichen (die Attentate, Anm.) vor einem Jahr so gedeutet, dass nur weitere Repression nützt. Und das war genau die falsche Antwort. Die grundlegende Frage von Besatzung und Besatzungsstrukturen muss gelöst werden. Hier kommt die Verantwortung von EU und USA hinzu.

Welchen Hebel haben sie?

Krieger: Der Westen müsste erstens gegenüber der israelischen Regierung ganz klar machen, dass die Form einer polizeilichen und militärischen Niederschlagung (des Widerstands) absolut verfehlt ist. Selbstverständlich braucht es Sicherheitsmaßnahmen für die eigene Bevölkerung. Aber Protestierende zu erschießen, ist Teil einer Eskalationsstrategie. Der zweite Punkt sind die Besatzungsstrukturen, die ja auch die EU als solche benennt. Welche politische Lösung gibt es? Was machen wir mit 550.000 jüdischen Siedlern in den Palästinensergebieten? Drittens muss man von der Autonomiebehörde fordern, dass sie gegenüber der eigenen Bevölkerung die Attentate verurteilt und klarstellt, dass ein politischer Prozess sinnvoll ist.

Würde sich Israels Regierung darauf einlassen?

Krieger: Jedenfalls nicht freiwillig.

Und unfreiwillig?

Krieger: Man kann verschiedene Formen von Druck entwickeln. Aber die EU und die USA sehen dafür keine Notwendigkeit. Das hat einerseits zu tun mit dem Verhältnis zum israelischen Staat und andererseits mit einer politischen Einschätzung der Kriege im arabischen Raum. Ein politischer Druck wäre also notwendig; gleichzeitig ist zu erwarten, dass es ihn nicht geben wird. Damit sind alle Bedingungen für weitere Gewaltzyklen erfüllt.

Die aktuelle Attentatswelle wurde vielfach als Beginn einer dritten Intifada (Palästinenseraufstand) dargestellt. Stimmen Sie dem zu?

Krieger: Ja und nein. Es gibt einerseits Formen des Protestes und von Attentaten, die in der Kontinuität von Intifada stehen. Auch die Rahmenbedingungen sind nach wie vor ähnlich wie bei der ersten und zweiten Intifada — vielleicht sogar noch schlechter, weil jetzt die Erfahrung dazukommt, dass der bisherige politische Prozess zu nichts geführt hat. Andererseits hat die erste Intifada eine massenhafte Mobilisierung über die verschiedenen palästinensischen Organisationen und die Beteiligung aller sozialen Klassen bedeutet — und das sehe ich heute nicht.

Das Gespräch führte Floo Weißmann

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