Die Sehnsucht nach dem Wilden
Die Viennale widmet ihre diesjährige Retrospektive den Tier- und Menschenfabeln.
Von Peter Angerer
Innsbruck –In den Kochbüchern des 19. Jahrhunderts begannen viele Rezepte noch mit hilfreichen Tötungshinweisen, denn Ferkel, Huhn, Kaninchen oder Schildkröte mussten in der Küche erst geschlachtet werden. Das Töten und damit die Grausamkeit wurde mit der „bürgerlichen Küche“ aus dem Haushalt verbannt, die Herkunft von Fleisch verschleiert, Haustiere nahmen plötzlich an der Tafel Platz und gaben den Menschen das Gefühl, eine neue Zivilisationsstufe erklommen zu haben: Die Tierliebe war erfunden.
Diesem komplexen Verhältnis von Tier und Mensch widmet die diesjährige Viennale die Retrospektive „Animals“. Bis 30. November sind im Österreichischen Filmmuseum über 40 Animations-, Spiel- und Dokumentarfilme und ebenso viele Kurz- und Trickfilme zu sehen.
Die US-amerikanische Produktion „The Animals Film“ von Victor Schonfeld und Myriam Alaux erregte 1981 weltweites Aufsehen, als erstmals der Zivilisationsvorhang zur Seite gezogen und die verdrängte Realität geschundener Kreaturen hinter der Pelz-, Fleisch- und Pharmaindustrie sichtbar wurde. Diese soziale Realität in der Beziehung von Mensch und Tier inszenierte Robert Bresson in „Zum Beispiel Balthazar“ (1966) als Leidensgeschichte. Balthazar ist ein Esel, der seine Existenz als Spielzeug für Kinder in den Pyrenäen beginnt und nach vielen Stationen und Peitschenhieben genau dort erschossen wird, wo er seine unbeschwerte Kindheit verbracht hat. Diese Erkenntnis, sich trotz aller Qualen und Begegnungen mit Menschen nicht von der Stelle bewegt zu haben, ist in Balthazars Augen zu sehen und nur als ironische Brechung zu ertragen. Dieses Ende als Moment des Schreckens ist nur mit der Ermordung von Bambis Mutter durch einen Jäger vergleichbar, die aus dem Hirschkalb einen vorerst hilflosen Waisen macht. Der Disneyfilm „Bambi“ hat vor mehr als 70 Jahren die Tradition der Tierfabeln im Kino begründet und – funktioniert noch immer. Während technischer Fortschritt und Zivilisation die Wildnis bedrohen, wächst auch die Sehnsucht nach Wildnis, nach unberührter Natur, die zu schützen nur noch die Fabelwesen im Kino in der Lage sind.
Für die direkte Konfrontation von Mensch und Wildnis hat das Kino die Genres Horror, Science Fiction und Märchenfilm vorgesehen. Jean Cocteaus „La Belle et la Bête“ war 1946 fast so etwas wie eine Erwiderung auf „Bambi“ für Erwachsene, wenn sich eine Jungfrau in den Tiermenschen verliebt. In David Cronenbergs „Fly“ verwandelt sich ein Wissenschafter in ein mörderisches Fliegenmonster. Die Erlösung gewährt auch ihm eine Frau.