Als Röntgen vor 120 Jahren zufällig Geschichte schrieb
Am Sonntag vor 120 Jahren wurden die Röntgenstrahlen entdeckt. Ihr „Vater“, Wilhelm Röntgen, erhielt den ersten Nobelpreis der Physik.
Von Christiane Gläser/dpa
Würzburg – Eigentlich wollte der kauzige Professor in seinem Labor an der Universität Würzburg nur kurz die schönen Lichterscheinungen eines längst bekannten Physik-Experimentes mit Kathodenröhren bewundern. Doch zufällig stellt Wilhelm Conrad Röntgen (1845-1923) dabei fest, dass in einiger Entfernung zu seinem Versuchsaufbau ein weiteres Glas strahlt.
Kathodenstrahlung reicht jedoch eigentlich nicht so weit. Röntgen hält schwarzes Papier dazwischen, das Glas strahlt weiter. Ein Brettchen - die Strahlung bleibt sichtbar.
Im Grunde war es der erste dokumentierte Strahlungsunfall. „Seine wissenschaftliche Leistung war, das als ungewöhnlich zu erkennen und daran weiterzuforschen“, sagt Roland Weigand. Er ist Mitglied des Röntgen-Kuratoriums in Würzburg. Der Verein hat die berühmte Wirkungsstätte des Physikers mit Originaleinrichtung und -geräten wieder entstehen lassen. An diesem Sonntag (8. November) jährt sich die bahnbrechende Entdeckung Röntgens zum 120. Mal.
Röntgen schloss sich wochenlang im Labor ein
Nach dem besagten Abend soll sich Röntgen sechs Wochen lang in seinem Labor eingeschlossen haben, um weiter zu experimentieren – obwohl sich seine Wohnung direkt über seinen Arbeitsräumen befand. In dieser Zeit fand er heraus, dass die bisher unbekannte Strahlung durch fast alles dringt. Er nannte sie X-Strahlen. Das wohl erste Röntgenbild eines menschlichen Körperteils war die Aufnahme der Hand seiner Frau vom 22. Dezember 1895.
In den Monaten danach stand die Fachwelt Kopf. Ein Kollege schlug vor, die Strahlen nach seinem Entdecker zu benennen, der Kaiser persönlich ließ sich alles erklären, vorführen und verlieh Röntgen den höchsten deutschen Orden. 1901 bekam er den erstmals vergebenen Physik-Nobelpreis. Röntgen schrieb ganz zufällig Physik- und Medizingeschichte.
Röntgenstrahlen retteten bereits im Ersten Weltkrieg Leben
Die Entdeckung der X-Strahlen revolutionierte das Krankenhauswesen. Mit Röntgen-Geräten waren Diagnosen auf einmal blitzschnell und zuverlässig möglich. Im Ersten Weltkrieg wären ohne den Einsatz dieser Technik deutlich mehr Menschen gestorben. Auch heute noch sind die Röntgenstrahlen nicht aus der medizinischen Praxis wegzudenken. „Man muss einfach anerkennen, dass die meisten Diagnosen nach dem Einsatz von bildgebenden Verfahren wie Röntgen gestellt werden“, sagt Radiologe und Nuklearmediziner Helmut Altland. Er ist der Vorsitzende des Berufsverbandes Deutscher Radiologen.
Die Röntgenstrahlen seien nach wie vor wichtig in der Medizin. „Aber wir ergänzen sie auch durch modernere Techniken, wie die strahlungsarme Computertomographie oder die strahlenersetzende Kernspintomographie“, sagt Altland. Hinzu komme, dass Röntgenstrahlen heute auch bei Therapie angewendet werden. So könnten unter Röntgenkontrolle beispielsweise Laserstrahlen gegen Tumore an die richtige Position gebracht werden. „So wird der Patient schonend behandelt, und man spart sich die große Operation. So kann man in den Menschen hineinschauen, ohne ihn aufzuschneiden. Das ist ein Riesenfortschritt und wird in Zukunft einen wichtigen Stellenwert haben“, meint der Experte.
Röntgenstrahlen helfen auch der Lebensmittelindustrie
Auch in der Industrie sind Röntgenstrahlen unabdingbar. In der Lebensmittel-Industrie helfen die Geräte beispielsweise Verunreinigungen zu finden und Befüllungen zu kontrollieren. In der Sicherheitstechnik durchleuchten sie Gepäckstücke, in Maschinenhallen prüfen sie Werkstoffe auf Risse, und Archäologen untersuchen mithilfe der X-Strahlen Fossilien und Gesteine.
Röntgen ist weltweit berühmt. Die Gedächtnisstätte in Würzburg ist dennoch eher unscheinbar. In einem Gebäude der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt unterhält der Verein „Röntgen-Kuratorium Würzburg“ das ehemalige Labor des Forschers. Dort können sogar die Original-Versuche vorgeführt werden. Eine Inschrift an der Hauswand, ein Film, Schautafeln, Urkunden und Geräte im Gebäude – wer die Stätte nicht explizit sucht, wird an dem historisch so wertvollen Ort schlicht vorbeilaufen. Wer ihn dennoch findet, kann das Mini-Museum kostenlos besuchen. „Wir bieten aber auch Führungen - von der Schulkasse, über die Ärztegruppe bis hin zu den Landfrauen. Rund 60 Anmeldungen haben wir pro Jahr“, sagt Weigand vom Kuratorium.
Bewusst kein Patent angemeldet
Diese Bescheidenheit passt zu Röntgens Art. Er hat aus seiner Entdeckung nie Profit schlagen wollen, meldete absichtlich keine Patente darauf an. Ihm war das Wohl der Menschen wichtiger. Seinen kompletten schriftlichen Nachlass ließ er ungelesen verbrennen. Von seinem wissenschaftlichen Geist sind deshalb nur die offiziellen Veröffentlichungen erhalten. „Medizingerätehersteller, Röhrenhersteller, Radiologen – sie alle verdienten Geld mit den X-Strahlen, nur der Entdecker selbst nicht“, sagt Weigand dazu.
Röntgen stirbt 1923 mit 77 Jahren an Darmkrebs. Auf seine Arbeit mit den für den menschlichen Körper schädlichen Röntgenstrahlen ist das Weigand zufolge nicht zurückzuführen. „Er befasste sich nur einen relativ kurzen Zeitraum mit diesen Strahlen, und die Strahlen selbst waren noch nicht so energiereich.“
Verpasster Weltruhm für Kollegen
Ein Wissenschafterkollege von Röntgen hätte jedoch bereits fünf Jahre zuvor Weltruhm erlangen können. Wenn Arthur W. Goodspeed nur ein wenig länger über die sonderbare Erscheinung auf seinem Fotopapier nachgedacht hätte, würden die Röntgenstrahlen heute vielleicht Goodspeed-Strahlen heißen. Denn der amerikanische Physiker hatte die von Wilhelm Conrad Röntgen 1895 entdeckten und später nach ihm benannten Röntgenstrahlen schon fünf Jahre zuvor dokumentiert.
Nur konnte er sich darauf keinen Reim machen und legte das Foto mit den komischen Bilderscheinungen einfach zur Seite. Goodspeed wollte mit einem Fotografen durch Funkeninduktoren erzeugte Blitzentladungen fotografieren, um sie später mit Aufnahmen von natürlichen Blitzen zu vergleichen. An dem Abend im Februar 1890 soll Goodspeed dem Fotografen auch die faszinierenden Leuchterscheinungen in Glasröhren gezeigt haben, die von Kathodenstrahlung ausgelöst werden. Neben der Röhre lagen noch unbelichtete Fotokassetten mit Münzen und Gewichtsplatten darauf.
Tage später entdeckten die beiden schließlich beim Entwickeln der Fotoplatten die merkwürdigen, runden Strukturen auf den Bildern. Doch statt der Sache auf den Grund zu gehen, ging Goodspeed von einem Fabrikationsfehler aus und legte die Platten zur Seite. Sechs Jahre später, als Röntgens Entdeckung in aller Munde war und auch Goodspeed davon erfuhr, machte er sich doch noch mal über die Strukturen Gedanken. Dabei wurde ihm klar: Er hatte unbemerkt die erste Röntgenaufnahme von Münzen gemacht. „Wegen unserer Nachlässigkeit der Sache nachzugehen, können wir keinerlei Ansehen dafür beanspruchen“, bedauerte er noch 1929 in einem Brief an einen Röntgen-Biografen.