Doppelmoral bei Menschenrechten
Jakob Brossmann erzählt im TT-Interview von der Entstehung seines Dokumentarfilms „Lampedusa im Winter“, für den er mit dem Wiener Filmpreis ausgezeichnet wurde und der derzeit im Kino läuft.
Innsbruck –Seit der Weltpremiere im August beim Filmfestival von Locarno ist Jakob Brossmanns „Lampedusa im Winter” der Dokumentarfilm der Stunde, der sich den Aufrüstungsversuchen in der Sprache der Politiker und an den nationalen Grenzen verweigert. Brossmann zeigt die italienische Mittelmeerinsel, mit ihren etwa 5000 Bewohnern nur etwas mehr als 100 Kilometer von der afrikanischen Küste entfernt, als raue Kulisse für Menschlichkeit. Brossmann erinnert in Inserts mit Zahlen an die Tragödien der Flüchtlinge, die seit 20 Jahren auf meist untauglichen und überladenen Booten die Überfahrt nach Europa in ein sicheres Leben riskieren. Allein seit dem Jahr 2000 sind 23.000 Menschen beim Versuch umgekommen, das Meer zu überqueren. 700 Menschen sind im April dieses Jahres bei einem einzigen Schiffsunglück ertrunken.
Was war der Anstoß, der Sie für Jahre diesen Film auf Lampedusa hat drehen lassen, und warum im Winter?
Jakob Brossmann: Ich habe mich schon früher für die Fragen der Flucht interessiert und dafür, wie die Gesellschaft mit den Menschen umgeht, die kommen und um Schutz bitten. Als der Name und die ersten Bilder von Lampedusa in den Medien aufgetaucht sind, wollte ich mehr darüber wissen. Ich wollte wissen: Was ist dort für ein Leben? Bei meiner ersten Recherche vor Ort habe ich erfahren, dass der Sommer dort ein großes Fest ist. Die Insel macht sich schön für die Touristen, versucht ihre Probleme zu vergessen, daneben taucht natürlich auch das Flüchtlingsleid auf, aber diesen Kontrast zwischen Tourismus und Elend wollte ich nicht in das Zentrum des Films stellen, den gibt es ja fast überall auf der Welt. Im Winter wird die Insel auf sich selbst zurückgeworfen, da ist sie so isoliert, dass sie sich mit sich selbst befassen muss.
Sie verzichten im Film auf jeden Kommentar, Bilder erzählen die Geschichte. Offene Fragen werden von den auf Lampedusa anwesenden Journalisten gestellt.
Brossmann: Journalisten pielen in der Welt eine große Rolle und auf Lampedusa insbesondere. Da hat es sich angeboten, Informationen über die Fragen der Journalisten in den Film zu bringen. Journalisten haben die Aufgabe, Menschen zum Sprechen zu bringen, das haben sie auch dort getan und wir haben auch diese Begegnungen begleitet.
2013 gingen die Bilder von Hunderten Flüchtlingen um die Welt, die in Sichtweite des Hafens von Lampedusa ertrunken waren.
Brossmann: Die Kameras der Welt stehen an der Grenze und blicken gebannt auf das, was da scheinbar auf uns zukommt, aber sie gehen nicht zu den Ursachen und auch nicht wirklich zu den Auswirkungen der Flucht. Paralysiert wiederholen sie das Bild des überfüllten Bootes. Sobald es irgendwo anders ein spektakuläres Bild gibt, sind die Fragen wieder vergessen.
Sie zeigen keine Schockbilder. Aufarbeitung und Trauer dokumentieren Sie in einem Museum, das auf Lampedusa mit angeschwemmten Fundstücken aus dem Meer oder aus Schiffwracks eröffnet wurde.
Brossmann: Dieses Museum ist ein Versuch, etwas von Menschen festzuhalten, mit denen man nicht in Kontakt kommen kann, entweder weil sie hinter Stacheldraht verschwinden oder weil sie ihr Leben verloren haben bei einer Überfahrt, die so nicht hätte sein müssen, denn es gäbe ja Möglichkeiten für eine sichere Reise – aber wir verweigern das jenen, die es am dringendsten brauchen. Letzten Endes ist es unfassbar, was an unseren Grenzen passiert.
Der Film ist Europa gewidmet. Ist das Ironie angesichts der aktuellen Ereignisse?
Brossmann: Diese Widmung ist eine Verneigung vor dem, was Europa sein könnte, aber auch ein Vorwurf an das, was jetzt Europa vielfach ist, wenn eine Doppelmoral zum Vorschein kommt, wenn Europa weltweit Menschenrechte einfordert, aber diese selbst nur den eigenen Bürgern vorbehält. In ganz Europa wird das Problem seit Jahrzehnten unter den Teppich gekehrt, nur Lampedusa ist der Ort, der sich nicht entziehen kann, der sich der Frage stellen muss. Es ist ganz wesentlich, dass wir uns mit diesem Europa befassen und uns ehrlich die Frage stellen: Wo liegen die Probleme? Wie man auf Lampedusa sieht, die Probleme sind nicht die Flüchtlinge, sondern wie wir miteinander und mit den Flüchtlingen umgehen.
Und was läuft schief in Europa?
Brossmann: Für mich leidet Europa unter einem Mangel an Solidarität zwischen dem Zentrum und den Peripherien. Da ist Lampedusa ein Extrembeispiel für Peripherie. Darunter, dass das Zentrum so sehr mit sich beschäftigt ist, leiden die Bevölkerung und die Flüchtlinge. Das kann man global weiterdenken, wo ist die Solidarität der Finanzmärkte mit der Dritten Welt? Diese paar Promille Entwicklungshilfe können doch nicht die Antwort sein auf das Leid von Millionen. Stattdessen erfindet man einen Begriff: Wirtschaftsflüchtling.
Sie wurden bei der eben zu Ende gegangenen Viennale mit dem Wiener Filmpreis für „Lampedusa im Winter” ausgezeichnet. Was kann ein Film in dieser Situation leisten?
Brossmann: Der Film kann in mehrerlei Hinsicht Mut machen. Einerseits zeigt er jenen, die Angst haben, dass das Leben, wie wir es kennen, NICHT mit der Ankunft von Flüchtlingen endet. Lampedusa ist seit 20 Jahren der von Flucht am meisten betroffene Ort auf der Welt und hat ein ganz normales Leben. Er kann aber auch am Beispiel der Menschen, die im Film vorkommen, zeigen, wie man mit der eigenen Hilflosigkeit umgeht und wie man trotz dieser Hilflosigkeit immer wieder aufsteht und sich für einen menschlicheren Umgang mit diesen Allerärmsten bemüht.
Das Gespräch führte Peter Angerer