„Soziale Ungleichheit im Nahen Osten ist Nährboden für IS“
Soziale Ungleichheit sei zu großen Teilen für den Aufstieg der Terrormiliz IS (Daesh) im Nahen Osten verantwortlich, schreibt Wirtschaftswissenschafter Thomas Piketty. Und legt damit seinen Finger auf eine Wunde: denn auch der Westen sei dafür verantwortlich.
Von Matthias Sauermann
Der Terrorismus nährt sich aus einem System der sozialen Ungleichheit, welches wir (der Westen, Anm.) zu einem großen Teil mit zu verantworten haben. Das ist die Kernthese von Wirtschaftswissenschafter Thomas Piketty. Der Experte beschäftigte sich jüngst in einem Blogeintrag für die französische Zeitung Le Monde mit dem Aufstieg der Terrormiliz IS (Daesh) und erregte damit Aufsehen. Die Washington Post nennt die Theorie sogar die „kontroversiellste Theorie" über die Gründe für den Aufstieg der Jihadisten.
Warum konnte der Terror im Nahen Osten so weitreichend Fuß fassen? Und wer trägt dafür die Verantwortung? Diesen Fragen geht Piketty in seinem Artikel auf den Grund. Neben den Folgen der Kriege in Kuwait und im Irak habe sich der Nahe Osten auch aus wirtschaftlichen Gründen in ein „Pulverfass“ verwandelt, so die Hauptthese des Autors.
Öl-Reichtum in Händen weniger Staaten konzentriert
Als Beispiel nennt Piketty die Verteilung von Rohstoffen und Ressourcen, allen voran Öl. 300 Millionen Menschen leben in der Region. Mehrere Ölmonarchien (dazu zählen etwa Saudi-Arabien, Kuwait und die Vereinigten Arabischen Emirate, Anm.) seien für 60 bis 70 Prozent des Bruttoregionalproduktes verantwortlich. In diesen Staaten leben jedoch nur 10 Prozent der Bevölkerung, rechnet Piketty vor. „Das macht die Region zur ungleichsten Region des Planeten“, schreibt der Franzose.
Und genau diese Regime werden vom Westen unterstützt, klagt der Wissenschafter an. Um Mittel für Fußballclubs zu erhalten, oder einfach um den Waffenhandel voranzutreiben. „Es ist kein Wunder, dass unsere Lektionen von Demokratie und sozialer Gleichheit nicht bei der Jugend des Nahen Ostens ankommen.“ Dieser ökonomische Hintergrund bilde den Nährboden für Extremismus, und die Reihe von Kriegen im Nahen Osten als Rechtfertigung für die Jihadisten, resümiert Piketty.
Der Artikel von Piketty schlug Wellen bis in die USA. Die Washington Post griff ihn auf und schrieb, das Argument der sozialen Ungleicheit habe bislang nicht viel Aufmerksamkeit in den Vereinigten Staaten erhalten. Die Theorie ruhe auf der Annahme einer besonders großen Ungleichheit im Nahen Osten — eine „kontroversielle Annahme“, wie die Post schreibt. Die Debatte darüber sei wohl erst am Beginn.
Grenzziehung im Jahr 1920 Wurzel vieler Konflikte
Thomas Piketty legt mit seinen Thesen jedenfalls den Finger auf eine Wunde. Für die Grenzziehung im Nahen Osten im Jahre 1920 zeichnet nicht zuletzt Europa verantwortlich. Nach der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg wurden die Grenzen der Region von den Siegermächten festgelegt. Ausschlaggebend waren damals machtpolitische Interessen. Der Wille der lokalen Bevölkerung war zweitrangig. Im Irak wurden gegensätzliche Provinzen in einem Nationalstaat zusammengefasst, Syrien und seine Nachbarstaaten hatten damals als unabhängige Staaten noch gar nicht existiert. Auch die ungleiche Verteilung von Ressourcen ist wohl darin begründet.
Wie soll der Westen dieser bereits bestehenden Ungleichheit nun begegnen? Laut Piketty wäre das Gebot der Stunde, an Glaubwürdigkeit zu gewinnen, indem man die soziale Ungleichheit in der Region bekämpft — und weniger Rücksicht auf eigene Interessen oder Beziehungen mit Herrschaftsfamilien nimmt.