Kritik

“Raum“: Gefangene in der Freiheit

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Die Oscar-Gewinnerin Brie Larson und Jacob Tremblay machen das Entführungsdrama „Room – Raum“ zu einer beklemmenden und zugleich beglückenden Kinoerfahrung.

Von Peter Angerer

Innsbruck –Kaum erwacht, springt Jack (Jacob Tremblay) aus dem Bett, das er mit seiner Mutter (Brie Larson) teilt, um seine besten Freunde zu begrüßen. Mit „Guten Morgen“ begrüßt er Bett, Schrank, Stuhl und Waschbecken, übersieht auch nicht die Toilette. Dann jagt ihn „Ma“ auch schon auf die Marathonroute zwischen Bett und Schrank, bei den Liegestützen gibt sie den Rhythmus vor. Weil dieser Tag wegen Jacks fünften Geburtstags ein besonderer ist, darf das Kind für die Torte die Eier aufschlagen, aber keine Kerze ausblasen. Das ist der erste Konflikt zwischen Jack und seiner Mutter, die sich statt der Geburtstagskerzen für eine Jeans entschieden hat, denn die „Sonntagsgaben“ müssen mit einem Blick auf das Nützliche gewählt werden. Den Tag verbringt Jack vor dem Fernseher, oder Ma erzählt Geschichten wie jene von Samson, dem die langen Haare Superkräfte verliehen haben. Deshalb klammert sich auch Jack an seine Haare, die ihn wie ein Mädchen aussehen lassen. Abends, beim ersten knarrenden Geräusch an der Tür, zieht sich Jack in den Schrank zurück und beobachtet, wie sich „Old Nick“ (Sean Bridgers) seiner Mutter nähert, die alles mit sich geschehen lässt, solange ihr Entführer und Peiniger darauf verzichtet, seinen Sohn zu sehen.

Angelockt von den Kuchenkrümeln kommt aber noch ein weiterer Besucher und Jack sieht zum ersten Mal ein Lebewesen, das sich außerhalb des Fernsehers bewegt. Bisher galt es als ausgemacht, die Welt bestehe nur aus diesen neun Quadratmetern. Die Maus bringt dieses Erklärungsmodell ins Wanken, eröffnet nach ihrem Verschwinden aber auch die ersten Fluchtgedanken. Außerdem könnte der Fünfjährige mit seinem Fernsehwissen reif für die Wahrheit jenseits der Märchen sein. „Sogar Alice hatte ein Leben, bevor sie in das Wunderland stürzte“, sagt Ma, die Joy hieß, bis sie vor der Schule von einem fremden Mann gebeten wurde, sich um seinen kranken Hund zu kümmern. Diese Hilfsbereitschaft büßt Joy seit sieben Jahren als Gefangene und Vergewaltigungsopfer, doch für ihr Kind inszeniert sie ohne Bitterkeit ein strahlendes Universum. Tatsächlich begreift Jack den mit Korkplatten verklebten Schuppen als magischen Raum, der sich mit der Macht der Fantasie bis zur Unendlichkeit durchwandern lässt.

Inspiriert von österreichischen, weltweit Aufsehen erregenden Missbrauchs- und Entführungsfällen veröffentlichte die irisch-kanadische Autorin Emma Donoghue 2010 den Roman „Room“, den sie für Lenny Abrahamsons Film auch als Drehbuch adaptierte. Die Übersetzung von unerträglichen Lebensumständen in fantastische Wendungen war natürlich schon die Überlebensstrategie in Roberto Benignis Film „Das Leben ist schön“, in dem ein Vater seinem Sohn das Leben im Konzentrationslager als aufregendes Spiel erklärt.

„Room – Raum“ wird zu einer beklemmenden Kinoerfahrung, wenn Joy und Jack nach einer Stunde Spielzeit unter dramatischen Umständen die Flucht aus dem Gefängnis gelingt. Die Tragödie beginnt in der Freiheit. Joys Eltern (Joan Allen und William H. Macy), deren Ehe den emotionalen Belastungen nach der Entführung ihrer Tochter nicht gewachsen war, betrachten ihren Enkel mit gemischten Gefühlen. Noch drastischer äußert sich die Gesellschaft zu den Ereignissen. Irgendwann überwiegen neue Fluchtgedanken aus der Freiheit und die Sehnsucht nach dem „Raum“. Wie die mit einem Oscar belohnte Brie Larson und Jacob Tremblay in ihrer Mutter-Kind-Beziehung aufgehen und mit kleinen Gesten die Knoten aus dem Wunderland auflösen, macht aus „Raum“ auch eine beglückende Erfahrung, wenn etwa Jack seine Haare opfert, um die Mutter zu retten.