Europa zwischen Autonomie und Separatismus
Zahlreiche Regionen, von Schottland bis Katalonien, streben Selbstständigkeit an. Sie sind wirtschaftlich stark und wollen den Zentralstaat finanziell und politisch nicht mehr mittragen.
Von Beate Troger
Innsbruck –Schottland, Katalonien, Korsika, das Baskenland und Flandern schienen auf den ersten Blick wenig gemeinsam zu haben. Doch diese Regionen in Europa eint das Streben nach Selbstständigkeit, nach Unabhängigkeit vom Mutterstaat. Trotz unterschiedlicher historischer und kultureller Entwicklungen, trotz des Blutvergießens in der Vergangenheit stehen die meisten separatistischen Provinzen heute wirtschaftlich gut da, besser als der Zentralstaat.
„Einer der wesentlichen Beweggründe für die Unabhängigkeit ist jener, dass die Regionen nicht länger bereit sind, zur Finanzierung des Staates im bisherigen Ausmaß beizutragen“, erläutert Andreas Maurer, Professor für Europäische Integration an der Universität Innsbruck, im TT-Gespräch. Mit Ausnahme der Flamen in Belgien gelten diese Regionalisten laut Maurer auch als pro-europäisch und würden sich gerne als Staat in die EU einbringen.
Erst vor zwei Wochen kündigte der katalanische Regierungschef Carles Puigedemont in Barcelona für September 2017 erneut ein Referendum über die Loslösung von Spanien an. Das spanische Verfassungsgericht in Madrid jedoch pocht auf die Integrität des Gesamtstaates und ließ die Volksabstimmung 2014 verbieten.
Doch so einfach, wie in Madrid argumentiert werde, sei die brisante Causa nicht: „Im internationalen Völkerrecht gibt es sehr wohl die Option einer einseitigen Loslösung unterdrückter Minderheiten“, erklärt der Politologe Maurer. Der Gesamtstaat müsse zustimmen, da das Völkerrecht über der spanischen Verfassung stehe.
In dem Fall würde sich Katalonien aber in eine ähnliche Situation wie der Kosovo begeben. Dieser werde trotz des Rechtsgutachtens des Internationalen Gerichtshofs vom Jahr 2010 nach wie vor von mehreren EU-Staaten nicht anerkannt.
In Schottland hat Regierungschefin Nicola Sturgeon für diese Woche einen Gesetzesentwurf für ein weiteres Unabhängigkeits-Referendum angekündigt. Maurer bestätigt: Zwei Jahre nach dem abgeschmetterten ersten Referendum über den Austritt aus dem Vereinigten Königreich sei die Situation in Folge des Brexit-Votums neu zu bewerten. „Großbritannien bekommt einen harten Brexit und steht erst einmal auf derselben Stufe wie Nordkorea“, spricht Professor Andreas Maurer Klartext.
Verhandlungen über neue Formen der Kooperation zwischen London und Brüssel seien separat zu führen. Darüber hinaus müssten Regelungen für Zigtausende im Ausland lebende Briten in Sachen Krankenvorsorge oder Pensionsversicherungen getroffen werden. „Dieser Prozess ist sehr, sehr komplex“, sagt Politologe Maurer. „Schottland kann jetzt nicht von sich aus sagen, wir bleiben in der EU“, stellt er klar. Die Region müsse zuerst auf jeden Fall mit Großbritannien die Europäische Union verlassen, dann ihre Unabhängigkeit erklären und schließlich neue Beitrittsverhandlungen mit Brüssel aufnehmen. „Dieser Prozess ist nicht unwahrscheinlich“, meint er. Vielen Schotten sei aber nicht bewusst, dass sie in dem Fall nicht als Rechtsnachfolger Großbritanniens der EU beitreten können. „Die britischen Ausnahmeregelungen, vom Euro, von der Innen- und Justizpolitik, von der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Grundrechtecharta gelten nicht mehr wie gewohnt“, erklärt Maurer, „von den Schotten wird ein viel größerer Souveränitätsverzicht verlangt.“
Als „brandgefährlich“ ordnet Maurer die Lage in Nordirland ein. Auch dort hatte die Mehrheit gegen den Brexit gestimmt. Nun drohe der Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken sowie der Kampf für Unabhängigkeit oder die Vereinigung mit der Republik Irland wieder aufzuflammen.
Eine Patentlösung für die aufmüpfigen Regionen gibt es nicht. Eine weitreichende Autonomie wie in Südtirol könne zwar als Erfolgsrezept gelten. Dennoch müssten die Regionen bereit sein, einen Teil der Steuern ins Gesamtsystem einzuzahlen. „Die wirtschaftliche Situation kann sich nämlich schnell ändern“, weiß Maurer. So habe zuletzt in Belgien Wallonien im Bereich der modernen Industrie massiv gegenüber Flandern aufgeholt und damit die Bewegung der Neu-Flämischen Allianz an Zuspruch verloren.
Streben nach Unabhängigkeit
Baskenland: Die Zentralregierung in Madrid gewährt den Basken bereits umfassende Autonomierechte, etwa im Steuerbereich. Seit die baskische Terrororganisation ETA 2011 den bewaffneten Kampf für die Unabhängigkeit der Region mit 2,7 Mio. Einwohnern beendete, wurde es leiser um die Unabhängigkeitsbestrebungen.
Katalonien: Die Autonomie von 1977 genügt den 7,6 Mio. Katalanen nicht mehr. Ein Unabhängigkeitsreferendum wurde 2014 von Madrid abgeschmettert. Bei den Regionalwahlen 2015 kamen die separatistischen Parteien auf 48 Prozent und wollen 2017 eine neue Volksabstimmung lancieren.
Schottland: Die Schottische Nationalpartei regiert seit 2007, ein eigenes schottisches Parlament gibt es seit 1999. 45 Prozent der Schotten stimmten 2014 für die Loslösung vom Königreich. Nach dem Brexit-Votum könnte das aber anders aussehen: Nur 38 Prozent der Schotten stimmten für den EU-Ausstieg.
Korsika: Die Separatisten der Korsischen Nationalen Befreiungsfront (FLNC) beendete 2014 ihren bewaffneten Kampf für Unabhängigkeit von Paris. Der politische Flügel rund um den Präsidenten der Regionalversammlung, Jean-Guy Talamoni, setzt sich aber stark für die Unabhängigkeit ein.
Flandern: Die Neu-Flämische Allianz (N-VA) gewann die Parlamentswahlen 2014, stellte die Löslösung für die Regierungsbeteiligung aber zurück.
Südtirol: Bereits 1972 genießt die Autonome Provinz Bozen weitreichende Autonomie. Die Süd-Tiroler Freiheit, die sich für einen Staat Südtirol oder die Wiedervereinigung mit Österreich einsetzt, ist in der wohlhabenden Region aber nur eine Minderheitenbewegung.
Grönland: Die einstige Kolonie ist seit 1953 autonom und stimmte 1985 für den Austritt aus der EU. Die wirtschaftlich schwache Insel will zwar unabhängig sein, wäre im Alleingang aber kaum überlebensfähig.