Mörder oder Held? Heute fällt der TV-Zuschauer das Urteil
In Ferdinand von Schirachs Gedankenexperiment „Terror“ wird einem Kampfpiloten, der 164 Menschen tötete, um 70.000 zu retten, der Prozess gemacht. Das Urteil fällen dabei die TV-Zuseher.
Von Joachim Leitner
Innsbruck –Die Frage ist einfach: Darf man töten, um Leben zu retten? Darum geht es in Ferdinand von Schirachs Justiz-Stück „Terror“, das seit seiner Uraufführung im Oktober 2015 für Gesprächsstoff sorgt. Der dramaturgische Clou von Schirachs Gedankenexperiment: Die Entscheidung trifft das Publikum, das zu Schöffen eines Gerichtsprozesses wird. Der Fall, über dem zu Gericht gesessen wird, ist dabei besonders knifflig – um nicht zu sagen: ein Dilemma. Lars Koch, hochdekorierter Luftwaffenmajor, hat ein gekapertes Passagierflugzeug angeschossen, das Kurs auf ein vollbesetztes Stadion genommen hat. Alle Insassen der Maschine kamen ums Leben. Ist er nun ein Held, der mutmaßlich 70.000 Menschen das Leben gerettet hat? Oder ein 164-facher Mörder?
Auf der terror.theater lässt sich online nachlesen: In bislang 526 Verhandlungen weltweit gab es 491 Freisprüche, von insgesamt 161.812 Schöffen entschieden knapp 60 Prozent für Freispruch. In Österreich, wo das Stück im Grazer theater@work gespielt wurde, endete es in 17 von 18 Fällen mit einem Freispruch. Grundtenor: Der Schütze habe mit seiner Entscheidung Schlimmeres verhindert.
Heute Abend wird „Terror“ zum Eurovisions-TV-Event: Lars Kraumes kammerspielhafte Adaption des Stückes wird ab 20.15 Uhr zeitgleich von ARD, ORF2 und dem Schweizer Sender SRF ausgestrahlt. Gedreht wurden sowohl der Freispruch als auch die Verurteilung des Angeklagten – der Ausgang wird mittels Televoting und Online-Abstimmung ermittelt.
Gewissermaßen als Testlauf wurde „Terror“ am Freitagabend in ausgewählten Kinos gezeigt. Und auch im Innsbrucker Metropol fiel das Urteil eindeutig aus: 152 Geschworene votierten für den Freispruch des Angeklagten, 65 befanden ihn für schuldig.
Andreas Scheil, Professor für Strafrecht an der Uni Innsbruck, der die Vorführung als Experte begleitete, hingegen hätte den im Film von Florian David Fitz gespielten Lars Koch nach deutschem Recht für schuldig befunden. Das 2005 verabschiedete Luftsicherheitsgesetz erlaubt den Abschuss nicht. Eine Verpflichtung zum „geringeren Übel“, das Aufwiegen von Menschenleben, gibt es in der Theorie nicht. Es gilt Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
„Der Tatbestand des Mordes ist unstrittig erfüllt“, stellt Andreas Scheil fest. Die Frage sei nun also vielmehr, ob es Gründe gäbe, die Koch entschuldigen. Das heißt: „Gibt es etwas, das rechtmäßiges Verhalten, sprich: keinen Mord zu begehen, unzumutbar gemacht hätte?“, erklärt Scheil. Kochs Verteidiger (Lars Eidinger) argumentiert hier mit „entschuldigender Notstandshilfe“. Ein nachvollziehbarer Schritt, findet Scheil, „der in der deutschen Rechtsprechung allerdings nur greift, wenn Gefahr für Angehörige oder persönlich Nahestehende herrscht, wovon im ,Terror‘ keine Rede sein kann“.
In Österreich hingegen würde die Notstandshilfe weiter gefasst. Er gilt immer dann, wenn Menschen in Gefahr sind. „Deshalb“, so Scheil, „stellen sich gewisse Fragen, die ,Terror‘ in Deutschland aufwirft, hier nicht – und es wäre einfacher, einen Freispruch für den Angeklagten zu erwirken.“
Insgesamt, so der Jurist, sei „Terror“ ein Lehrbuchfall, ein Gedankenspiel, das sich manches bereitwillig zurechtbiegt, um die gewünschte rechtlich-moralische Aus-weglosigkeit zu entwerfen.
Der Qualität des atmosphärisch dichten, elegant inszenierten und hervorragend besetzten Films schaden diese juristischen Einsprüche kaum. „Terror“ ist ein spannender Gerichtsfilm – und natürlich auch eine Einladung, sich selbst ein Urteil zu bilden. Wobei es darum wohl weniger geht, als um den notwendigen Diskurs – das Grübeln, Debattieren und Stirnrunzeln –, der diese Urteilsfindung begleitet.
Außerdem – das rückt durch den Fokus auf die interaktive Abstimmung am Schluss etwas in den Hintergrund – erzählt „Terror“ auf durchaus eindringliche Art auch davon, wie dem „Krieg gegen den Terror“ Grund- und Bürgerrechte geopfert werden.
„Terror – Ihr Urteil zählt“ als TV-Event und Themenabend
Österreich ORF 2 zeigt „Terror – Ihr Urteil zählt“ heute ab 20.15 mit einer Einleitung von Moderator Peter Resetarits. Nach der Verhandlung, ab 21.40 Uhr, kann via Telefon und auf www.orf.at abgestimmt werden. Danach wird das gewählte Filmende ausgestrahlt. Im Anschluss, ab 21.50 Uhr, diskutieren Resetarits, Justizminister Wolfgang Brandstetter (ÖVP), Rechtsphilosophin Elisabeth Holzleithner und Verfassungsrechtler Heinz Mayer die Entscheidung. Liveschaltungen nach Deutschland und in die Schweiz sind geplant.
Deutschland: In der ARD wird der Film von einer Sonderausgabe des Polittalks „Hart aber fair“ begleitet. Moderator Frank Plasberg spricht ab 21.50 Uhr unter anderem mit dem Ex-Verteidigungsminister Franz-Josef Jung (CDU), dem langjährigen Kampfpiloten Thomas Wassermann, dem ehemaligen Innenminister und Juristen Gerhart Baum (FDP) und der Theologin Petra Bahr über die Entscheidung des Publikums sowie über die ethischen und juristischen Grundlagen des Falls.