Nein zum Referendum, Ja zum Frieden in Kolumbien
Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos hat trotz des Neins beim Referendum weiter Ja zum Frieden mit der FARC-Guerilla gesagt. Am Samstag nimmt er in Oslo den Nobelpreis entgegen.
Von Josefina Echavarría Alvarez und Adham Hamed
Seit Jahrzehnten sind Bemühungen, den kolumbianischen Bürgerkrieg beizulegen, wiederholt gescheitert. Nach vierjährigen Verhandlungen zwischen der Regierung, der linken FARC-Guerilla und Vertretern von Opfergruppen schien am 22. Juni 2016 schließlich der Durchbruch gelungen. Die Parteien hatten sich in Havanna auf einen detaillierten Friedensvertrag geeinigt, der den 52-jährigen Bürgerkrieg mit über 220.000 Toten und sieben Millionen Geflohenen beenden sollte. Ein Prozess der Demobilisierung, Entwaffnung und Reintegration von ehemaligen Guerilla-Kämpfern in die Gesellschaft war bereits eingeleitet. Dann aber kam ein herber Rückschlag: Anfang Oktober lehnte die kolumbianische Bevölkerung den Vertrag völlig unerwartet in einem Referendum mit einem Votum von 50,22 Prozent Neinstimmen ab — bei einer Wahlbeteiligung von nur 37,4 Prozent. Der Friedensprozess drohte zu scheitern.
Das Osloer Nobelpreis-Vergabe-Komitee verkündete daraufhin, dass Präsident Juan Manuel Santos für seine Bemühungen den Friedensnobelpreis erhalten werde. Politisch gestärkt suchte er weiter den Dialog und reagierte in einzelnen Punkten auf die Forderungen der Opposition rund um den ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe. Vergangene Woche wurde ein abgeänderter Vertrag nun einstimmig vom kolumbianischen Kongress angenommen. Auf eine Volksabstimmung verzichtete man diesmal. Dennoch bleibt nun die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass eine Gesellschaft, deren überwiegende Mehrheit in die Realität eines der blutigsten bewaffneten Konflikte des vergangenen Jahrhunderts hineingeboren wurde, ein Ja zum Frieden ablehnte und welche Schlüsse daraus für die kommenden Jahre gezogen werden können.
Die vierte Partei
In der Ausarbeitung des Vertrags hatte man einer zentralen Gruppe zu wenig Beachtung geschenkt: Während die unmittelbar betroffenen Parteien — die Opfer des Konflikts, die Regierung und die FARC-Guerilla — aus einer geteilten Konflikterfahrung eine Einigung erzielen konnten, hatte man die Bedürfnisse der restlichen Bevölkerung, als unsichtbare vierte Konfliktpartei, weitgehend außer Acht gelassen. Ihr hatte man lediglich ein ausgearbeitetes Dokument zur Zustimmung vorgelegt. Dies führte zu beachtlichem Widerstand der Opposition.
Nach internationalem Vorbild sieht der Vertrag von Havanna vor, den Friedensprozess durch eine spezielle Übergangsjustiz zu begleiten. Dabei wird den Angehörigen von Opfern und Überlebenden die Möglichkeit gegeben, Gewissheit über die Ereignisse der Vergangenheit zu bekommen. Den ehemaligen Kämpfern werden im Gegenzug Perspektiven zur Reintegration in die Zivilbevölkerung ermöglicht. Anders als den Angehörigen der Opfer ist der übrigen kolumbianischen Bevölkerung der Wunsch nach Wahrheit über die Gräueltaten des Krieges ein ungleich geringeres Anliegen. In diesem Punkt stieß die Opposition auf besonders große Resonanz. Ihr zentraler Kritikpunkt lautete, die für die Guerilleros vorgesehenen politischen Amnestien und deren politische Repräsentation im nationalen Parlament würden keine Gerechtigkeit für die Opfer des Bürgerkrieges bringen. Präsident Santos verwies wiederholt darauf, dass vor dem Hintergrund kollektiver Gewalt- und Kriegserfahrung, konventionelle Bemühungen um Gerechtigkeit innerhalb der juristischen Möglichkeiten eines Staates in der Regel zu kurz greifen. Diese Position war gegenüber dem Ruf nach hohen Gefängnisstrafen jedoch vorerst nicht mehrheitsfähig. Somit einigte man sich auf eine Reihe von Zugeständnissen an die Opposition, wie etwa eine Beteiligung der FARC an der finanziellen Entschädigung der Opfer.
Jenseits von Rationalität
Auf den ersten Blick scheint die kolumbianische Entscheidung im Referendum wider die Vernunft zu sein, stellte sie die Menschen doch vor eine ungewisse und womöglich gewaltvolle Zukunft. Konflikte bestehen jedoch neben rationalen Dimensionen auch aus anderen Komponenten. Aspekte wie Sexualität und Emotionalität sind in der Konfliktanalyse zu beachtende Faktoren. Ersterer Aspekt wird in Kolumbien am Beispiel eines Handbuchs über sexuelle Vielfalt, das kurz vor Abschluss des Friedensvertrags vom Gesundheitsministerium an Schulen in Umlauf gebracht wurde, besonders deutlich. Entgegen einer sehr konservativen Sexualmoral werden darin Themen wie Homosexualität offen diskutiert, was für kontroverse Debatten in der Gesellschaft sorgte. Der Regierung wurde in diesem Zusammenhang vorgeworfen, auch im Rahmen des Friedensvertrags ein „unmoralisches" Bild von Familie zu propagieren. So werden die Friedensbefürworter mit geschlechtsideologischen Argumen- ten delegitimiert.
Zudem stellt eine von der Opposition hoch emotional geführte Debatte über die vielen eigenen Todesopfer im Konflikt ein weiteres Element der Komplexität im Friedensprozess dar. Auf die daraus resultierende, durch Trauer und Zorn geprägte Kritik reagierten die Verhandler in Havanna jedoch mit wenig Fingerspitzengefühl, was den Widerstand verstärkte.
Nach Havanna
Die auf allen Seiten entstandenen Wunden gehen tief, so dass eine rationale Argumentation für Frieden an manchen Menschen abprallt. Auf die Kolumbianer wartet daher eine doppelte Herausforderung: Einerseits gilt es, den überarbeiteten Vertrag umzusetzen. Dazu gehört nicht nur die Entwaffnung der FARC-Guerilla, sondern auch deren Reintegration in die Gesellschaft als anerkannte politische Partei. Andererseits wird es über den Vertrag hinaus eine Auseinandersetzung mit Formen von Gerechtigkeit geben müssen. Die Rufe nach hohen Gefängnisstrafen stehen in starkem Gegensatz zu der Forderung der FARC und der Opfer des Konflikts nach sozialer Gerechtigkeit. Die dahinterliegenden Gründe gilt es zu begreifen. Davon wird Frieden in Kolumbien in großem Maße abhängen. Konflikttransformation ist Beziehungsarbeit, konkret zwischen den Opfern des Konflikts, den FARC-Guerilleros, der kolumbianischen Regierung und der gesamten Gesellschaft. Sie alle sind direkt oder indirekt betroffen.
Zu den Autoren
Josefina Echavarría Alvarez (Universitätslehrgang für Friedensstudien) und Adham Hamed (Institut für Politikwissenschaft) sind Friedens- und KonfliktforscherInnen an der Universität Innsbruck. Josefina.Echavarria@uibk.ac.at Adham.Hamed@uibk.ac.at