Urteil zum Nemzow-Mord klärt Frage nach Hintermännern nicht

Moskau (APA/dpa) - Der Reformpolitiker Boris Nemzow war eine wichtige Stimme der russischen Opposition. Fünf Männer warten auf ihr Urteil, w...

Moskau (APA/dpa) - Der Reformpolitiker Boris Nemzow war eine wichtige Stimme der russischen Opposition. Fünf Männer warten auf ihr Urteil, weil sie ihn ermordet haben sollen. Doch zentrale Fragen hat das Gericht nicht gestellt.

Auf der Brücke am Kreml in Moskau, auf der Boris Nemzow erschossen wurde, liegen jeden Tag frische Blumen. Seit dem 27. Februar 2015 pflegen und bewachen russische Oppositionsanhänger die inoffizielle Gedenkstätte. So wird es auch an diesem Dienstag sein, wenn ein Militärrichter Strafen gegen fünf Männer aus der Teilrepublik Tschetschenien im Nordkaukasus verhängt.

Sie haben nach Auffassung von Geschworenen den Auftragsmord an dem Ex-Vizeregierungschef begangen. Die zwölf Laienrichter sprachen die Angeklagten vergangene Woche nach drei Tagen Beratung schuldig. Ist damit der spektakuläre Mordfall geklärt, der die Opposition gegen Präsident Wladimir Putin einer wichtigen Stimme beraubte? Vor dem Gerichtsgebäude hielten Demonstranten reihum ein Plakat hoch: „Die Auftraggeber wurden nicht genannt, die Organisatoren nicht gefunden.“

Es kann in Russland tödlich sein, sich gegen das System zu stellen. 2006 wurde die kremlkritische Journalistin Anna Politkowskaja erschossen. Abgeordnete, Publizisten, Anwälte oder Ex-Geheimdienstler wurden getötet. Gemeinsam haben die Fälle, dass die russische Justiz die Auftraggeber nicht ermitteln konnte. Oder nicht wollte?

Im Fall Nemzow wurden der Schütze Saur D., sein Fahrer Ansor G. und andere Komplizen rasch gefasst und ihre Schuld nachgewiesen - auch in den Augen kritischer Moskauer Medien, die parallel recherchierten. Die Angeklagten gehören zum Umfeld tschetschenischer Polizeitruppen, kommandiert vom selbstherrlichen Republikchefs Ramsan Kadyrow. Doch in Tschetschenien versanden die Spuren bisher.

„Das waren keine vollgültigen Ermittlungen, das war eine Imitation“, kritisierte Nemzows Tochter Schanna. Ein Verdächtiger wurde bei der Festnahme getötet. Ruslan M., den die Anklage für den Drahtzieher halten, hat sich ins Ausland abgesetzt. Er war von Beruf nur Fahrer und stand in der tschetschenischen Hierarchie tief unter anderen Beteiligten. Nicht vernommen wurde sein Chef Ruslan G., Vize-Kommandeur des Polizeibataillons Sewer und Vertrauter Kadyrows.

Vom Motiv für den Mord war in dem monatelangen Prozess kaum die Rede, ebenso wenig von 15 Millionen Rubel (222.057,74 Euro), die angeblich auf Nemzow ausgesetzt waren. „Russland und der ganzen Welt ist der politische Zusammenhang des Mordes klar, nur unsere Ermittler und das Gericht leugnen ihn“, sagte Schanna Nemzowa.

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Der Kreml räumte ein, dass die Suche nach den Drahtziehern noch dauern werde. Nemzow (55) war der ranghöchste ermordete Politiker. Der Tatort in Sichtweite des russischen Machtzentrums legt nahe, dass die Täter sich entweder sehr sicher fühlten - oder dass Putin herausgefordert werden sollte.

Der Kremlchef sprach 2015 von einem „dreisten Mord“ und einer Schande für Russland. Er verschwand damals auf rätselhafte Weise für mehrere Tage von der Bildfläche. Die Deutung russischer Kremlbeobachter ist, dass nach dem Mord schwere Konflikte zwischen Zentralbehörden wie dem Innenministerium oder dem Inlandsgeheimdienst FSB und der tschetschenischen Führung gelöst werden mussten.

Eine tschetschenische Spur verbindet viele politische Morde in Russland. Politkowskaja hatte in der Zeitung „Nowaja Gaseta“ das brutale Vorgehen der russischen Armee wie Kadyrows gegen einfache Tschetschenen angeprangert. Der Anwalt Stanislaw Markelow vertrat Tschetschenen in Menschenrechtsklagen gegen das Militär. Er und die Journalistin Anastassija Baburowa von der „Nowaja Gaseta“ wurden 2009 dicht neben dem Kreml von einem Maskierten erschossen. Im gleichen Jahr entführten und ermordeten Unbekannte in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny die Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa.