Der Bewusstseinsarchäologe: Büchner-Preisträger Jürgen Becker wird 85
Köln (APA/dpa) - Beim deutschen Dichter Jürgen Becker darf man noch rauchen, jedenfalls wenn seine Frau nicht in der Nähe ist. Spätestens am...
Köln (APA/dpa) - Beim deutschen Dichter Jürgen Becker darf man noch rauchen, jedenfalls wenn seine Frau nicht in der Nähe ist. Spätestens am Schreibtisch gewinnt die Sucht die Oberhand. „Da sitze ich dann, es fällt mir nichts ein, und ich habe nur einen Gedanken: Nicht rauchen! Das ist dann mein Alibi: Ich kann sonst nichts machen.“ Immerhin ist er alt damit geworden: Am Montag (10. Juli) ist sein 85. Geburtstag.
Jedes Mal wenn Becker das leere Blatt Papier vor sich hat, kommt es ihm vor, als hätte er noch nie zuvor geschrieben. Er sitzt da und wartet auf eine Idee. „Es muss eine Zeile sein oder ein Bild, ein Wort, das durch den Kopf geht. Und dieser Satz will fortgesetzt werden. Ich muss ihn entdecken, ich muss ihn freilegen. Meine Gedichte sind sehr durch Assoziationen bestimmt, deshalb sind sie so unruhig. Das Hin- und Herspringen, so wie es im Kopf ja auch geht. Im Grunde ist es ein Bewusstseinsvorgang, den man nachzeichnet.“
Diese Bewusstseinsarchäologie ist es, die das Werk des Georg-Büchner-Preisträgers wesentlich ausmacht. Ein typischer Satz, der bei ihm sofort eine Assoziationskette in Gang setzt, war vor einigen Jahren das von einer Nachbarin aufgefangene „Kommt jetzt Krieg?“ Es ging damals um den Ukraine-Konflikt. Becker ist Jahrgang 1932. „Krieg ist für mich immer wieder eine Kindheitserfahrung, die sehr schnell zu Ängsten führt. So was kann sich wiederholen.“
„Je älter man wird“, hat Becker festgestellt, „desto näher kommt die Kindheit“. Es ist sein Ehrgeiz, so weit wie möglich in die Tiefen der Erinnerung vorzudringen. Die ältesten Bilder, die er dabei bisher zutage fördern konnte, zeigen das Haus seiner Großeltern am Stadtrand von Köln. Auch seine Eltern wohnten in diesem Haus, zu dem ein riesiger Garten gehörte. Den sieht er noch vor sich. Aber dann ist da irgendwo eine Grenze.
Becker besitzt ein altes Fotoalbum. Auf einem der Bilder sieht man ihn als kleinen Buben mit seiner Großmutter, die ihrerseits in einem Fotoalbum blättert und ihm ein Bild zeigt. Was das für ein Bild ist, kann man aber nicht sehen. „Ich werde nie im Leben herausfinden, welches Foto sie mir da gezeigt hat, was sie mir dazu erzählt hat, was ich vielleicht gefragt habe. Das bleibt eine stumme Zone, an die ich nicht mehr herankomme. Und das quält mich manchmal.“
In Odenthal hat Becker einen Rückzugsort, der oft auch ihn seinen Gedichten auftaucht. Ein kleines altes Fachwerk-Gehöft mit weitläufigem Obstgarten. Die Arbeit in der Landschaft war lange ein Ausgleich für ihn. „Zurück auf dem Land“ - mit diesen Worten beginnt sein neues Buch „Graugänse über Toronto“. Später heißt es dort: „Im Sauerland ist der Wolf wieder da; vielleicht schnuppert er schon um die Scheune herum; komische Tatzenabdrücke unter dem Küchenfenster.“
Becker hat nie vom Dichten leben können, er hatte immer auch einen „Brotberuf“. Fast 20 Jahre lang, von 1974 bis 1993, leitete er die Hörspielabteilung des Deutschlandfunks. „Öffentlichkeit, Rundfunk, Massenmedium“, zählt er auf. „Und andererseits die stille Arbeit an einem Gedicht: Das waren die beiden Seiten meiner literarischen Existenz.“
Die Neuigkeit von Einfällen lässt im Alter nach, hat er bemerkt. Ist „Graugänse über Toronto“ sein letztes Buch? „Entweder hört‘s auf oder es geht weiter. Das kann ich jetzt nicht sagen. Ich entscheide nicht darüber, ob ich weiterschreibe. Das ist jetzt eine Phase des Wartens.“