Flüchtige Wähler auf der Suche nach einer Partei
Die Wählerschaft ist in Bewegung wie selten zuvor. Die Ausgangslage am Beginn eines langen und heißen Wahlkampfs. Ein Überblick.
Von Michael Sprenger
Wien — Die volatile Wählerschaft hat eine neue Dimension erreicht. Der Wahlausgang am 15. Oktober ist offen. Für alle Parteien sind signifikante Veränderungen gegenüber 2013 möglich. Trotzdem wagt Politikwissenschafter Fritz Plasser nach Analyse seiner vorliegenden demoskopischen Befunde zwei Festlegungen: Am Ende des Wahlkampfs wird es keinen Dreikampf geben, sondern zwischen Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) und ÖVP-Chef Sebastian Kurz ein Duell ums Kanzleramt. Zudem sei für ihn eine Mehrheit links der Mitte unrealistisch. Die Ausgangslage:
SPÖ-Wahlergebnis 2013: 26,8 Prozent
Die SPÖ liegt augenblicklich bei einem Wähleranteil zwischen 26 und 28 Prozent. Plasser geht davon aus, dass die Wahlkampfmaschinerie der Roten ab Ende Juli auf Hochtouren läuft. Er traut dem „medienaffinen" Kern eine große Aufholjagd zu. Diese könnte für den ersten Platz reichen.
ÖVP-Wahlergebnis 2013: 24 Prozent
Die ÖVP befindet sich seit dem Wechsel von Reinhold Mitterlehner zu Sebastian Kurz in einem „erstaunlichen Hoch". Laut Plassers Daten bewegt sich die ÖVP in einem Wähleranteil zwischen 32 und 34 Prozent. „Kurz muss jetzt versuchen, über einen langen Zeitraum die Kurz-Wähler, die also nicht oder nicht mehr ÖVP gewählt haben, bei der Stange zu halten. Die größte Belastung für Kurz ist die enorme Erwartungshaltung", glaubt der Wahlforscher.
FPÖ - Wahlergebnis 2013: 20,5 Prozent
Bei der FPÖ macht sich Ernüchterung breit. Seit einigen Wochen liegen die Blauen konstant bei 24 bis 25 Prozent. „Ich erkenne bei Heinz-Christian Strache, dass er sich mit diesem demoskopischen Befund bereits arrangiert hat", so der Politologe. Vor einem halben Jahr lag die FPÖ in Umfragen mit mehr als 30 Prozent klar vor SPÖ und ÖVP. Bei einem guten Wahlkampf könnte die FPÖ das beste NR-Wahlergebnis ihrer Geschichte erreichen (1999: 26,9 Prozent unter Jörg Haider), aber „für den ersten Platz wird es nicht reichen", sagt Plasser voraus. Jedoch dürfte die FPÖ am Wahl- abend die machtpolitisch starke Rolle des Kanzlermachers einnehmen.
Grüne - Wahlergebnis 2013: 12,4 Prozent
Dass eine Mehrheit links der Mitte wohl außer Reichweite liegt, hängt mit dem Zustand der Grünen zusammen. Hier ortet Plasser eine problematische Ausgangslage. „Unsere Daten konnten die jüngsten Entwicklungen seit dem Bundeskongress noch nicht abbilden. Doch selbst vor den Spekulationen über eine eigenständige Liste von Peter Pilz ist die Ausgangslage eine ernüchternde: Die Grünen liegen bei acht Prozent. Für die Grünen könnte es also bei einer Liste Pilz auch ein Debakel am Wahlabend geben." Und im besten Fall? Die Grünen können bei einem guten Wahlkampf noch an Boden zulegen, ein „zweistelliges Ergebnis ist jedoch nur sehr schwer vorstellbar".
Für eine Liste Pilz gibt es noch keine verwertbaren Daten. Aber Plasser traut Pilz zu, knapp über die Vier-Prozent-Hürde zu kommen. „Es könnten sogar fünf Prozent werden. Aber die Bäume werden nicht in den Himmel wachsen." Die Annahme von Pilz, er könnte 40 Prozent von früheren Nicht-Wählern ansprechen, ist für Plasser ein reiner Wunschtraum.
NEOS - Wahlergebnis 2013: 5 Prozent
Die NEOS schafften 2013 erstmals den Einzug in den Nationalrat. Und im Nationalrat könnten sie auch nach dem 15. Oktober Platz nehmen. Die Ausgangslage für die Pinken lag bis zur Vorwoche stabil bei fünf Prozent. Allerdings ist die magische Vier-Prozent-Grenze für den Einzug in den Nationalrat nicht weit entfernt: „Da darf nicht viel passieren", warnt der Politikwissenschafter. Deshalb sei jetzt das Antreten von Irmgard Griss für die NEOS wichtig. Plasser nennt die Kandidatur der früheren Bundespräsidentschaftskandidatin einen Rettungsring für die junge Partei. Mit ihr ist ein Wachstum des Stimmenanteils möglich. Sechs bis sieben Prozent kann sich Plasser für die NEOS vorstellen.
Die Wählerschaft setzt sich in Bewegung. Die BZÖ-Wähler von 2013 (3,5 Prozent) ebenso wie die Stronach-Wähler (2013: 5,7 Prozent) müssen sich umorientieren. Ihre Parteien scheinen nicht mehr auf dem Stimmzettel auf. In den Parteien gibt es zudem neue Angebote, außer bei der FPÖ, neue Köpfe an der Spitze. Plasser geht deshalb davon aus, dass die Fernsehkonfrontationen heuer eine entscheidende Rolle spielen werden. „Die Fernsehduelle könnten letzten Endes darüber entscheiden, wer der neue Hausherr im Kanzleramt wird", sagt Plasser. Für den langjährigen Wahlforscher gilt es, bei den TV-Konfrontationen zwischen zwei Wirkungsbereichen zu unterscheiden. Der unmittelbare Bereich — ein Wähler will A wählen und wechselt nach der TV-Konfrontation des Duells zu B — kommt selten vor. Plasser beziffert den unmittelbaren Wirkungsbereich mit insgesamt zwei Prozent.
Der mittelbare Wirkungsbereich kann hingegen wahlentscheidend sein: Ein Wähler will B wählen, ist aber vom TV-Auftritt enttäuscht. Er verliert die Lust, B zu wählen. Er wechselt zwar nicht zu einer anderen Partei, bleibt aber am Wahltag zu Hause oder wählt ungültig.