Filmkritik

“Life, Animated“: Lektionen über die Gefühle

© Polyfilm

Roger Ross Williams dokumentiert in „Life, Animated“ die herzzerreißende Rettung des Autisten Owen Suskind durch die Trickfiguren aus dem Disney-Universum.

Von Peter Angerer

Innsbruck –Owen ist 23 Jahre alt, als er an seiner Schul­e den Abschluss macht. Die entscheidende Prüfung soll Eltern und Pädagogen überzeugen, dass er in der Lage sein wird, ein eigenständiges Leben zu führen. Bedenken gibt es beispielsweise wegen Owens Körperhaltung im öffentlichen Raum, da sich mit eingezogenem Kopf der Verkehr kaum überblicken lässt. Owen weiß das, dennoch verwirrt ihn die Frage nach der sichersten Stelle, als Fußgänger eine Straße zu überqueren. Stolz stülpt sich der Schüler zur Zeugnisverteilung den obligaten Hut über den Kopf. Tief bewegt verfolgen die Eltern und der Bruder die akademische Feier, die den Beginn eines neuen Lebens markiert. Owen soll künftig in einer großzügigen Anlage für betreutes Wohnen – 120 Kilometer von den Eltern entfernt – leben. Um den Schmerz der Trennung zu beschreiben, schiebt Owen eine VHS-Kassette in einen Videorecorder. Es ist Disneys „Bambi“.

Der kleine Hirsch und seine Mutter hetzen durch den Wald. Schüsse sind zu hören, Bambi dreht sich um, aber von der Mutter ist nichts mehr zu sehen. Es ist einer der schmerzhaftesten Momente der Filmgeschichte, der Generationen von Kinogehern zu Tränen gerührt hat. Owen ist Autist, den die Zeichentrickfilme aus dem Hause Disney gerettet haben.

Roger Ross Williams zeigt in seinem mit einer Oscarnominierung und anderen Preisen ausgezeichneten Dokumentarfilm „Life, Animated“ die komplexen Verknüpfungen der witzigen Stimmen des Disney-Universums in Owens Gehirn, um mit der Außenwelt kommunizieren zu können. Ron Suskind, ein Bestsellerautor und mit einem Pulitzerpreis ausgezeichneter Journalist, hat die Geschichte seines Sohnes aufgeschrieben und die Fortschritte filmisch dokumentiert. Diese frühen Familienfilme montiert Williams mit Ausschnitten aus „Peter Pan“, „Aladdin“, „Dumbo“ oder „Der König der Löwen“, die in Owens Entwicklung eine wesentliche Rolle spielen. Fehlstellen in der Erzählung werden mit schwarzweißen Bildern animiert.

Bis zu seinem dritten Lebensjahr ist Owen als „normales, aufgewecktes Kind“ zu sehen, das sich plötzlich zurückzieht, unansprechbar wird und buchstäblich verschwindet. Die Diagnos­e heißt Autismus und da ist – nach den medizinischen Möglichkeiten in den 90er-Jahren – nicht viel zu machen. Owen kommt auf eine teure, „besondere Bedürfniss­e“ berücksichtigende Privatschule, die Mitschüler schikanieren den Außenseiter, der sich bald wie der Elefant mit den großen Ohren fühlt. Aber selbst der unglückliche Dumbo konnt­e mit unerwarteten Talenten aufwarten.

Zufällig entdecken die Eltern eine besondere Fähigkeit, die Inselbegabung ihres Sohnes. Owen beherrscht sämtliche Dialoge samt entsprechender Stimmlage aus den Disney-Trickfilmen. Dabei hat er sich in die Welt der Sidekicks, der treuen Kumpels, die den Helden unterstützen, eingefügt. Es gibt natürlich auch bei den Suskinds Vorbehalte gegen die schlichte Weltsicht oder den Antagonismus der Disney-Filme, die zudem keine Hilfe in erotischen Fragen anbieten. Aber Owen hat damit gelernt, Gefühle zu deuten und mit ihnen umzugehen. Nach den herzzerreißenden Lektionen über Schmerz, Einsamkeit und Verlust ist aus Owen schließlich ein Gelassenheit ausstrahlender Erwachsener geworden. Roger Ross Williams begleitet Owen noch in das Schloss der Träume, wir und seine Eltern müssen uns keine Sorgen mehr machen.