Trash-TV

Im Reich der Realitätchen

Vor der Rauswahl mussten alle verbliebenen vier Kandidaten zur Dschungelprüfung antreten.
© (c) RTL / Stefan Menne

Mit bissigem Sprachwitz erklärt Trash-TV-Expertin Anja Rützel, wie die Schmuddelfalte in die Fernseh-Tischdecke kam. Und warum medialer Mist nicht so schlimm ist wie sein Ruf.

Von Christiane Fasching

Innsbruck –Am 7. November 1970 ging ein lautes „Huch!“ durch die heimischen Wohnzimmer, gefolgt von einem empörten „Früher hätt’s das nicht gegeben“. Was war passiert? In Dietmar Schönherrs Samstagabend-Show „Wünsch dir was“ flanierte eine 16-jährige Kandidatin mit durchsichtiger Bluse durchs Studio – untendrunter trug sie nix. Die Fernseh-Nation war aus dem Häuschen, die TV-Welt, die damals noch in öffentlich-rechtlicher Hand war, hatte ihren ersten handfesten Skandal. Für die Journalistin Anja Rützel ist dieser Abend auch die Geburtsstunde eines Genres, das Harald Schmidt einst als „Unterschichten-Fernsehen“ klassifizierte. Rützel, die auf Spiegel Online Formate wie „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus“, „Germany’s Next Topmodel“ oder „Bachelor“ mit eloquentem Witz filetiert, hat dem Trash-TV-Universum nun ein erfrischendes Reclam-­Büchlein gewidmet.

Die Blusen-Affäre markiert für sie den Moment, an dem „die erste Schmuddelfalte in der gestärkten Tischdecke der Samstagabend-Unterhaltung“ auftauchte. Längst gehört dieser Knitter-Effekt zum normalen Erscheinungsbild des Fernseh-Alltags, in dem Frauen getauscht oder von Bauern gesucht werden, Möchtegern-Models für ein Foto töten würden, Mittelklasse-Promis tierische Geschlechtsteile in den Mund nehmen oder sonnenhungrige Auswanderer mit Steuerschulden im Regen stehen. „Es ist Mist, aber ich mag’s“, sagt Rützel. Und bringt Friedrich Schiller ins Spiel. 1784 sang der in seiner Rede „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“ ein Loblied aufs Theater. Laut Schiller könne das Publikum vom Bühnengeschehen nämlich fürs Leben lernen. „Laster und Tugend, Glückseligkeit und Elend, Torheit und Weisheit“, würden hier in komprimierter Form an den Zuschauern vorbeiziehen und nebenbei auch den Alltagstrott vergessen machen.

Für Rützel hat so gesehen auch das RTL-Dschungelcamp etwas Theatrales, erinnert es vom Aufbau her doch an ein griechisches Drama, dessen Geschehen von einem – arg zynischen – Chor kommentiert wird und dessen Protagonisten stets bestimmte Typen vertreten. Jetzt könnte man unken, dass bei Sophokles und Co. weder „Muttchen“ noch „Catchprase-Kanaille“ zugegen waren, aber einen dramatischen Effekt kann man dem perfekt inszenierten Ausflug ins Unterhaltungs-Unterholz nicht absprechen. Fakt ist: Der Zuschauer von heute hat sich an die alljährlich angesetzte Kakerlaken-Dusche-Show längst gewöhnt. Die Zeiten haben sich eben geändert: Denn in den 1980er-Jahren empörten sich TV-Kritiker noch über Jürgen von der Lippes Blödelshow „Donnerlippchen“, in der Kandidaten in einer Badewanne mit Wasser übergossen wurden. Der Humor des Hawaiihemd-Spaßvogels wurde damals als „ordinär und rüde“ abgetan, gar von „Sadismus“ war die Rede. In der Nachbetrachtung findet Rützel das fast schon „süß“.

Aber zurück zur durchsichtigen Bluse und der Frage, ob es ohne sie hierzulande kein Trash-Fernsehen gegeben hätte. Mit Sicherheit nicht: In den USA war da mit „Candid Camera“ nämlich längst die Urmutter aller Reality-Formate, die am Ende ja doch nur ein quotenträchtiges Realitätchen abbilden, auf Sendung. Seither dringt die vermeintliche Wirklichkeit in die Fernseh-Parallelwelt und eröffnet sich auch für Hinz und Kunz die Möglichkeit, irgendwann einmal einen Fuß vor die Kamera zu setzen. Möglichkeiten dafür gibt’s zuhauf, so schnell wird der Fernseh-Müll nicht zu entsorgen sein. Oder um in Rützels „Klumquamperfekt“ zu sprechen: „Das war’s noch lange nicht gewesen.“

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