Kunst

Künstler, Aktivist, Freiheitskämpfer: Ai Weiwei wird 60

Mit seiner Dokumentation, die die globale Flüchtlingskrise unserer Zeit beleuchtet, darf Ai Weiwei - seinerseits selbst Flüchtling - auf den Goldenen Löwen hoffen.
© imago stock&people

Im Reich der Mitte verfolgt, im Westen wie ein Superstar gefeiert: Der chinesische Konzeptkünstler Ai Weiwei provoziert nicht nur mit seiner Kunst das Regime in Peking, sondern auch mit zahlreichen Protesten gegen die Korruption in der Regierung Chinas oder die Flüchtlingssituation in Europa. Heute wird er 60 und von Europas Kunstszene gebührend gefeiert.

Berlin – Er streute 100 Millionen handgefertigte Sonnenblumenkerne aus Porzellan in die Londoner Tate Modern. Er ließ zur documenta in Kassel 1001 Landsleute einfliegen. Und er sammelt für spektakuläre Installationen die Rettungswesten gestrandeter Flüchtlinge aus dem Mittelmeer. Alles bei Ai Weiwei ist groß und plakativ – und von ungeheuerem Furor getrieben. Chinas berühmtester Künstler, der nach seiner Verfolgung durch das Pekinger Regime seit zwei Jahren in Berlin lebt, will den Vergessenen und Verfolgten dieser Welt eine Stimme geben. Am Montag (28. August) wird der Bildhauer, Konzeptkünstler und Menschenrechtsaktivist 60 Jahre alt. Jedenfalls steht es so in seinem Pass, wie sein Sprecher versichert.

Sein wohl schönstes Geburtstagsgeschenk hat Ai schon bekommen: Bei den Filmfestspielen in Venedig ist sein Dokumentarfilm „Human Flow“, der am 1. September am Lido Premiere hat, über die globale Flüchtlingskrise für einen Goldenen Löwen nominiert. Für seine Dokumentation ist der Künstler dafür ein Jahr lang um den Globus gereist, hat in 23 Ländern mit Menschen gesprochen, die wegen Hunger und Naturkatastrophen, Krieg und Gewalt ihre Heimat verlassen mussten. In den vergangenen Jahren seien Tausende Menschen im Mittelmeer umgekommen, sagte er im Frühjahr, als er bei einer Ausstellung in Prag eine gigantische Schlauchboot-Installation enthüllte. „Das ist sowohl eine Tragödie als auch ein Verbrechen.“

Von der chinesischen Provinz auf die Bühne der Welt

Heimatlosigkeit und Entwurzelung sind auch in seinem eigenen Leben die prägende Erfahrung. Weil sein Vater, der chinesische Dichter und Maler Ai Qing, wegen seiner Regimekritik 20 Jahre lang aus Peking zwangsverbannt wird, wächst er in Chinas Randprovinzen auf. Nach einem Studium in Peking lebt er zwölf Jahre in New York, lernt die zeitgenössische Kunstszene kennen und macht mit ersten Arbeiten auf sich aufmerksam. Zurück in Peking, gerät er als „soziales Gewissen“ des Milliardenvolks zunehmend ins Visier der Behörden.

Als er nach dem verheerenden Erdbeben 2008 in Sichuan 2008 erkunden will, wie viele Kinder in eingestürzten Schulen durch Pfusch am Bau ums Leben kamen, wird er politisch zur Unperson. Er darf daraufhin im eigenen Land nicht mehr ausstellen, 2011 kommt er sogar für 81 Tage in Haft, die Behörden behalten für Jahre seinen Pass ein.

Kunst, Politik, Provokation

Als Ai 2015 endlich ausreisen darf, ist Berlin für ihn der selbstverständliche Zufluchtsort. Im Kulturzentrum Pfefferberg hat er schon seit Jahren neben seinem dänischen Künstlerfreund Olafur Eliasson ein riesiges Studio. An der Universität der Künste wartet die dreijährige Einstein-Gastprofessur und vor allem sein Sohn und seine Lebensgefährtin, die er beide schon ein Jahr zuvor aus Sicherheitsgründen nach Deutschland geschickt hatte. Seither ist Ai Weiwei gefragt wie nie. Das britische Kunstmagazin ArtReview führte ihn 2015 in seinem jährlichen Ranking als den einflussreichsten Menschen im Kunstbetrieb weltweit nach dem Schweizer Galeristenehepaar Wirth auf. Und mit dem gleichen Elan, mit dem er bis dahin die Menschenrechtsverletzungen in seiner Heimat angeprangert hatte, widmet er sich nun dem Kampf gegen das Flüchtlingselend.

Der Künstler Ai Weiwei provoziert mit seinen Werken und macht damit auf die prekäre Situation der Flüchtlinge aufmerksam.
© AP/picturedesk.com

Der Grat zwischen Kunst und Kommerz, Mitgefühl und Selbstinszenierung ist bei Ai manchmal recht schmal. So sorgte er im vergangenen Jahr für Aufsehen, als er das Bild des ertrunkenen syrischen Flüchtlingsjungen Aylan am Strand von Lesbos nachstellte. „Unendlich peinlich und unangemessen“, urteilte das Kunstmagazin Art über den „Protest-Berserker“. Und wo sieht Ai seine Zukunft? „Ich arbeite für Menschen, nicht für westliche Menschen oder für chinesische Menschen“, hatte er der dpa bei einem seiner ersten Interviews in Deutschland gesagt. Inzwischen hat er sich mit seiner neuen Heimat auf eine besondere Art angefreundet. „Für mich ist Berlin wie ein leeres Haus“, sagte er kürzlich. „Ich fühle mich wohl darin.“ (APA, JB)

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