Gesellschaft

Autor im Gespräch: „Kinder sind kein Projekt“

Rückhalt macht sicher: Eine gute Verbindung zwischen Eltern und Kind ist eine gesunde Grundlage für das weitere Leben.
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Starke Beziehungen statt übermäßigen Förderungen: Das ist das Beste für Kinder, meint der deutsche Kinderpsychologe und Sachbuchautor Herbert Renz-Polster.

Eltern wünschen sich eine gute, erfolgreiche Zukunft für ihre Kinder und fördern sie mehr denn je. Was läuft für Sie dabei falsch?

Herbert Renz-Polster: Die Intention stelle ich gar nicht in Frage. Was nicht richtig läuft, ist, dass die falschen Ziele verfolgt werden. Mehr als die gängigen Bildungsstandards zu erfüllen, brauchen Kinder die Fähigkeit, neugierige Augen haben zu dürfen. Was zählt, sind Lernbereitschaft, Verhandlungsfähigkeit und das Selbstbewusstsein, für sich einzutreten, aber auch für andere. Es sind die Persönlichkeitskompetenzen, die Kinder wirklich brauchen.

Und wie unterstützen Eltern ihre Kinder dabei, diese zu finden?

Renz-Polster: Die sind eigentlich von Natur aus angelegt. Was es braucht, ist der Rahmen, der den Kindern Sicherheit gibt und die Gelegenheit, Erfahrungen zu machen. Das funktioniert über Beziehungen. Das Kind braucht Eltern, die es als den Mensch erkennen, der es ist, und nicht als zu meisternde Aufgabe. Kinder sind kein Projekt. Menschliche Beziehungen sind für Kinder das größte Kapital. Und wichtig sind eben die Erfahrungen. Eltern können kein Kind stark machen. Aber sie können es darin unterstützen, eigene Erfahrungswerte zu sammeln, und es dadurch indirekt stärken.

Was sagen Sie Eltern, die gestehen, dass es gar nicht so einfach ist, sein Kind derart kompromisslos zu akzeptieren?

Herbert Renz-Polster.
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Renz-Polster: Dass das ganz verständlich ist. Sein Kind ohne Wenn und Aber anzunehmen, bedeutet in unserer Gesellschaft auch die Quadratur des Kreises. Bildungseinrichtungen fordern funktionsorientierte Bildung. Die Schule ist der Ort, wo die Chancen vergeben werden. Eltern stehen in einem massiven Konflikt. Die Frage ist, wie man es schafft, dass das Kind durch die ewige Negativinfo, also durch das Betonen, in einem Fach schlecht zu sein, nicht geschwächt wird.

Also was tun, wenn das Kind zum Beispiel schlecht in Mathematik ist?

Renz-Polster: Beide — Eltern und Kind — müssen sich als Team verstehen und sich so gut wie möglich gemeinsam ein Ziel setzen. Manche Schüler wollen lieber mit einem älteren Schüler lernen, manche mit den Eltern. Jedes Kind ist anders. Entscheidend ist, dass aus dem Matheproblem keine etablierte Versagenserfahrung wird. Wenn es zur Qual wird und die Beziehung zum Kind durch den Kamin geht, dann lieber einen Schritt zurücktreten und sagen „Das ist Aufgabe der Schule" und das Kind auf einem anderen Weg unterstützen. Eltern müssen die elterliche Ressource schützen und das ist die Beziehung zum Kind.

Grundlegend für Ihre Überlegungen ist die Evolutionstheorie nach Darwin ...

Renz-Polster: Kinder brauchen nach der Geburt sehr viel Schutz und Nähe. Sie können sich nicht selbst beschützen. Das war schon immer so. Andererseits brauchen sie auch die Chance, einen eigenen Sinn zu entwickeln. Dieser Spagat ist in der Evolution festgelegt, das macht es so schwierig. Ich plädiere dafür, dass wir uns das genauer anschauen und verstehen, dass wir nicht dagegenarbeiten können.

Was meinen Sie damit?

Renz-Polster: Bei ganz kleinen Kindern gibt es zum Beispiel noch immer die Meinung, dass man sie durch zu viel Nähe verwöhnen könnte. Dass man Babys beim Einschlafen eine bestimmte Zeit schreien lassen muss. Das ist evolutionär gesehen falsch. Daraus lernt das Baby keine Zufriedenheit und Unabhängigkeit. Das ist absurder Quatsch. Kinder wären früher nicht am Leben geblieben, würde das stimmen. Es ist genau anders herum. Ein Kind, das sich sicher fühlt, fängt an, in die Welt hineinzugehen.

Das evolutionär richtige Verhalten passt nicht immer zum Tagesablauf der berufstätigen Eltern. Wenn der Wutanfall gerade in dem Moment einsetzt, wenn der Kindergarten beginnt ...

Renz-Polster: Dann gilt es, authentisch zu sein. Ich glaube, wenn es nicht anders geht, dann kann man dem Kind vermitteln, dass das jetzt sein muss. Dafür könnte man beim nächsten Mal einkaufen flexibler sein. Wichtig ist, zu stoppen, bevor sich eine Kampfbeziehung aufbaut.

In einer späteren Phase, der Pubertät, werden Beziehungen gerne gekappt ...

Renz-Polster: Teenager leben tatsächlich ein paar Jahre in einem ganz anderen Land. Dann muss der Anspruch nicht sein, die gleiche Beziehung unbedingt weiterzuleben, sondern, dass der Kern überlebt. Entscheidend ist, zu signalisieren, dass man kontaktbereit ist. „Ich will dich nicht verletzen" soll die Botschaft sein.

Das Interview führte Andrea Wieser

Steckbrief

Herbert Renz-Polster ist Kinderarzt und Autor („Menschenkinder", „Kinder verstehen"). Am 14.11. hält er im Jugendland Innsbruck (Bernhard-Höfel-Str. 7) den Vortrag „Erfolgreich ins Leben". Beginn: 19 Uhr, Eintritt: 12 €.

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