Literatur

Die unerträglich schöne Geschichte einer Auslöschung

Bachtyar Ali lebt seit den 1990er-Jahren in Deutschland. Sein Roman „Der letzte Granatapfel“ wurde von der Kritik als „Paukenschlag“ gefeiert.
© Andreas Rottensteiner / TT

Mit „Die Stadt der weißen Musiker“ liegt inzwischen ein zweiter Roman des großen kurdischen Erzählers Bachtyar Ali in deutscher Übersetzung vor.

Von Joachim Leitner

Innsbruck –Bachtyar Ali zählte zu den Entdeckungen des vergangenen Literaturjahres. Obwohl der 51-Jährige alles andere als ein Newcomer war. In seiner Heimat – dem kurdischen Teil des Iraks – zählt Ali zu den bekanntesten Autoren seiner Generation. Aber im deutschen Sprachraum – er lebt seit seiner Flucht wegen politischer Verfolgung seit gut zwei Jahrzehnten in Deutschland – hatte niemand Ali und seinen im Original bereits 2002 erschienenen Roman „Der letzte Granatapfel“ auf der Rechnung. Dementsprechend hymnisch wurde das Buch, es handelt von der Suche eines aus der Haft entlassenen Vaters nach seinem Sohn und gestaltet das von Krieg und Diktatur verwüstete Kurdistan zur magisch-realistischen Seelenlandschaft, besprochen. Wie „Der letzte Granatapfel“ ist auch „Die Stadt der weißen Musiker“, Bachtyar Alis dieser Tage erschienener zweiter ins Deutsche übertragene Roman, ein beinahe unerträglicher Text. Unerträglich schön – und unerträglich grausam. Er sei davon überzeugt, dass von Gewalt nur mittels Poesie erzählt werden könne, sagte Ali vor gut einem Jahr im Gespräch mit der TT.

Sein Protagonist, der geniale Flötenspieler Dschaladati Kotr, allerdings beharrt auf ungefiltertem Realismus. Schließlich sei es die drastische Geschichte seines (Über-)Lebens, die es zu erzählen gilt. Mit dem, der diese Geschichte erzählen soll, der Schriftsteller Ali Scharafiar – ein Alter Ego des Autors vielleicht –, liegt er deshalb über Kreuz. Letztlich erzählen sie beide. Abwechselnd. Ein postmodernes Vexierspiel ist „Die Stadt der weißen Musiker“ deshalb nicht. Vielmehr kann man den Roman dadurch auch als poetologische Auseinandersetzung lesen, die das Spannungsfeld von Wahrheit und Schönheit erforscht.

Ein Ideen-Roman also? Mitnichten. Dafür ist das, was geschildert wird, zu drastisch: Dschaladati, ein gegenwärtiger Bruder von Grimmelshausens Simplicissimus, gerät in die Mühlen des iranisch-irakischen Krieges (1980–88), dem zahllose Kurden zum Opfer fielen – und er gerät ins Visier der Häscher des Diktators Saddam Hussein. Gerettet wird er ausgerechnet von einem der ruchlosesten Kriegsverbrecher. Oder auch nicht. Denn immer deutlicher tritt zu Tage, dass die Grenze von Leben und Tod für den begnadeten Musiker keine Bedeutung zu haben scheint. Die Frage, ob er seinem Retter Gerechtigkeit widerfahren lässt, stellt sich freilich trotzdem. Ein improvisiertes Gerichtsverfahren, in dem Geschundene dem Mörder und Folterer den Prozess machen, zählt zu den beeindruckendsten Szenen des Romans. Jene, die in einem klandestinen Museum spielen, das jene Werke sammelt, die von den Machthabern verfolgt, verboten und zerstört wurden, zu den beklemmendsten. „Die Stadt der weißen Musiker“ ist die eindringliche Schilderung versuchter – und millionenfach gelungener – Auslöschung.

Roman Bachtyar Ali: Die Stadt der weißen Musiker. Aus dem Kurdischen (Sorani) von Peschawa Fatah und Hans-Ulrich Müller-Schwefe. Unionsverlag, 432 Seiten, 26,70 Euro. Lesung. Bachtyar Alis Lesung am Dienstag, 14. November, um 19 Uhr im Literaturhaus am Inn ist Auftakt eines Schwerpunkts zum Thema „Verfolgte Literatur“. Am Mittwoch, 15. November, werden ebenfalls im Literaturhaus Texte verfolgter und inhaftierter Autoren präsentiert. Beginn: 19 Uhr.

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