„Mord im Orient-Express“: Die Liebe zur Symmetrie
Wie schon Sidney Lumets erste Verfilmung von Agatha Christies „Mord im Orient-Express“ lebt auch Kenneth Branaghs Remake von einem grandiosen Star-Ensemble.
Von Peter Angerer
Innsbruck –Vor der Klagemauer in Jerusalem stehen ein Rabbi, ein Imam und ein Priester. So beginnen bekanntlich viele Witze und um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, setzt ein Insert ein Datum: 1934. Hercule Poirot (Kenneth Branagh) kennt einige dieser Witze, setzt auch schon an, einen solchen zu erzählen, denn einer dieser würdigen Herren soll ein Dieb sein, doch den „größten Detektiv der Welt“ verlangt es dringend nach einem Frühstück, weshalb er im Vorbeigehen den Dieb entlarvt – es ist keiner der Kirchenmänner – und dafür den Eierlieferanten vor eine unlösbare Aufgabe stellt. Poirot liebt die Symmetrie, misst die Größe der beiden Eier, bis das gewünschte Ergebnis serviert wird. Damit erklärt Kenneth Branagh als Regisseur die Eigenheiten der von ihm gespielten Figur, aber das dauert dann doch – gefühlt – eine Stunde.
Schneller geht die Vorstellung der anderen Stars in Istanbul beim Verteilen der Kabinen im dampfenden Orient-Express. Ohne Böses zu ahnen, wirft der ominöse Kunsthändler Edward Ratchett (Johnny Depp) mit Menjou-Bärtchen und hässlichen Narben im Gesicht einen Blick auf eine blonde Dame, die wir zuerst nur von hinten sehen. „Verweilen Ihre Augen noch länger auf mir“, sagt die Dame und Schnitt – aber hallo! –, das ist Michelle Pfeiffer als Mrs. Hubbard, aber schon lange nicht mehr im Kino gesehen, „dann muss ich Miete verlangen.“ Das nennt man einen Starauftritt.
Vergleichsweise zahm kommt Judi Dench als Prinzessin Natalia Dragomiroff ins Bild. Sie platziert ihre beiden Hunde, Black and White, wie in einer alten Whiskywerbung auf dem Tisch des Speisewagens, was andere Gäste wieder degoutant finden. Zu denen gehören der (farbige) Arzt Arbuthnot (Leslie Odom Jr.) und der österreichische Nazi Gerhard Hardman (Willem Dafoe), der mit seinem Rassismus die Rassen voreinander schützen möchte, aber schon von Poirot als Nicht-Österreicher entlarvt wird. Ihn verrät die Verwendung des Wortes Sahne, da der polyglotte Belgier natürlich weiß, Österreicher würden nur Obers sagen. Penelope Cruz überrascht als spanische Nonne.
Kenneth Branagh ließ sich von seinem Drehbuchautor Michael Green, dessen „Blade Runner“-Fortschreibung auch noch im Kino zu sehen ist, gegenüber Sidney Lumets erster Verfilmung von Agatha Christies „Mord im Orient-Express“ lediglich einige Figuren umschreiben, ohne an der Krimihandlung zu rütteln. Die bizarrste Neuerung ist allerdings Poirots Schnurrbart, den er nächtens mit einer Bartbinde zähmt, die in einem anderen Film als Folterinstrument durchgehen könnte.
Anfang der 70er-Jahre suchten die Hollywood-Produzenten als Ausweg aus der kreativen und kommerziellen Krise nach überschaubaren Schauplätzen, an denen sich bequem zugkräftige Star-Ensembles unterbringen ließen. In Hotels, Flugzeugen oder eben Zügen wurden Konflikte abgehandelt, die nicht unbedingt originell sein mussten, da ohnehin die Stars die Attraktionen lieferten. Das Ensemble um Albert Finney als Poirot und Lauren Bacall, Ingrid Bergman oder Sean Connery, das Lumet 1974 als mörderisches Kollektiv inszenierte, war einer der erfolgreichsten Filme, dass daraus eine ganze Serie um den exzentrischen Detektiv produziert wurde, mit dem in der Folge vor allem Peter Ustinov brillieren konnte. Den Witz der Figur breitet Branagh auch in seiner Inszenierung aus, die in jeder Einstellung die Studioatmosphäre spüren lässt. Wenn eine computergenerierte Lawine die Lok aus den Schienen hebt und für die Aufklärung des Mordes an Depps Ratchett Wege im Freien notwendig sind, verdunkelt kein Kondensnebel den Atem der Stars. Die leichtfüßige Inszenierung will uns sagen, es ist ja nur ein Film.