110. Geburtstag

Von einem, der aufbrach, um Astrid Lindgren zu treffen

Astrid Lindgren.
© Flattinger

Heute vor 110 Jahren wurde Astrid Lindgren geboren. Hubert Flattingers Erzählung „Als ich Lord Winter war“ verneigt sich vor der Jahrhundertautorin.

Von Joachim Leitner

Innsbruck –„Sagen wir 14 Uhr?“ So lautete die handschriftliche Mitteilung, die Hubert Flattinger, damals Redakteur der Tiroler Tageszeitung, Anfang April 1994 aus Stockholm erreichte. Astrid Lind­gren (1907–2002), die bedeutendste Kinderbuchautorin des 20. Jahrhunderts, Schöpferin von Pippi Langstrumpf, Michel von Lönneberga, den Kindern aus Büllerbü und der Räuberstochter Ronja, bestätigte einen Interviewtermin. Wenige Tage später, am 13. April, wird Flattinger „um Punkt zwei“ an Lindgrens Tür unweit des Stockholmer Vasaparks läuten – und sich wundern: „Ich bin zum ersten Mal hier, und trotzdem ist mir, als wäre ich eben nur eine Runde um den Block gezogen und käme jetzt nach Hause zurück.“

Mit diesem Satz endet Flattingers Erzählung „Als ich Lord Winter war“, die nach ihrer Erstveröffentlichung 2005 inzwischen in einer vollständig überarbeiteten Neufassung vorliegt. Der schmale Band ist weniger ein Porträt der großen Erzählerin als eine Hommage an Lindgren, die heute vor 110 Jahren in Vimmerby im Süden Schwedens geboren wurde.

Hubert Flattinger fotografierte Astrid Lindgren am 13. April 1994 in ihrem Stockholmer Wohnhaus.
© Flattinger

Und Flattingers Hommage strotzt vor Hintersinn. Wenn Lindgrens Geschichten ihre kleinen und großen Leser – neben grundsätzlichem Misstrauen gegen alles allzu bemüht Lehrreiche vielleicht – etwas gelehrt haben, dann, dass sich auch mit den Gegenheiten der Wirklichkeit lustvoll umgehen lässt. Gerade in diesem Punkt erweist sich Flattinger mit „Als ich Lord Winter war“ als gelehriger Schüler Lindgrens. Den vergleichsweise schnöden Inhalt seiner Erzählung – ein Journalist reist nach Schweden, um eine Berühmtheit zu treffen – gestaltet er ganz leichtfüßig zum Assoziationsuniversum aus, in dessen Zentrum ein Ich steht, das einigermaßen hin- und hergerissen ist.

Schließlich könnte das anstehende Treffen mit Lind­gren, deren Gesamtwerk sich weltweit mehr als 120 Millionen Mal verkauft hat und in 70 Sprachen übersetzt wurde, zur „großen Story“ werden. Eine Story, auf die der Erzähler lange gewartet, um die er sich besonders bemüht hat. Nun freilich muss dieser „Weiße Wal“ gefangen werden. Wohl auch deshalb lässt sich das Ich bisweilen „Quiqueg“ nennen. So hieß auch der Harpunier und „Tintenmann“ in Melvilles „Moby Dick“.

Andererseits: Der Protagonist will nichts „erlegen“. Er verehrt Lindgren – und will seine Begeisterung mitteilen. Vor allem aber will er die Autorin nicht mit den immergleichen Standard-Fragen und dem obligaten Abklopfen der gesellschaftspolitischen Großwetterlage langweilen. Das alles also geht ihm durch den Kopf, als er zunächst den Zug und später den Flieger besteigt. Und spätestens beim Blick aus dem Fenster – und dem ins beruhigende Glas, denn auch Flugangstattacken wollen überwunden werden – entwickeln die Gedanken ein ganz eigenwilliges Eigenleben: Ein gewisser „Gin Kelly“ zieht sich die Gamaschen über, der feiste Stromboli aus Disneys Pinocchio-Film geistert durch ein lakoniegetränktes Gespräch zweier ungeplant in dieselbe Sitzreihe Verdammter – selbst Gregory Peck und Claudia Cardinale haben das, was man im Kino einen Gastauftritt nennen würde. Und – natürlich – tauchen auch Lindgrens Figuren auf, die lustigen genauso wie die ernsten. Pippi (im Kostüm einer Aztekenprinzessin), Madita (aus dem gleichnamigen Buch von 1960) und Kalle Blomquist.

Flattingers Versatzstück-Collage erinnert zwar mitunter mehr an einen weit ausholenden Bob-Dylan-Song als an Lindgrens zumeist um schlichte Eleganz bemühten Stil. Lust, Astrid Lindgrens großartige Bücher wieder einmal aus dem Regal zu holen, macht „Als ich Lord Winter war“ freilich trotzdem.

Erzählung Hubert Flattinger: Als ich Lord Winter war. Eine Reise zu Astrid Lindgren. Limbus, 96 Seiten, 12 Euro. Lesung. Heute, 14. November, Noaflhaus Telfs. Beginn: 19.30 Uhr.