,,Loving Vincent“: Ein melancholischer Mordermittler in Auvers
Dorota Kobiela und Hugh Welchman entwerfen in ihrem Animationswunderwerk „Loving Vincent“ einen faszinierenden Kunstkrimi.
Von Peter Angerer
Innsbruck –Arles 1891. Ein Jahr ist seit dem Tod Vincent van Goghs vergangen, aber erst jetzt kommt der letzte, vor seiner Einweisung in die Klinik von Saint-Rémy an seinen Bruder Theo geschriebene Brief als unzustellbar zurück. Für den Postmeister Joseph Roulin (Chris O’Dowd), der mit seinem prächtigen Bart und in seiner stolzen Uniform von van Gogh sechsmal porträtiert worden war, ist es der letzte Freundschaftsdienst, seinen Sohn Armand (Douglas Booth) mit der persönlichen Zustellung des Briefes zu beauftragen. Aber was heißt schon Freundschaft? Für Armand waren der Briefträger und „der verrückte Holländer“ bloß Saufkumpanen. Außerdem hatte die Familie jedes Ansehen verloren, denn nach den Skandalen mit Gauguin und dem denkwürdigen Auftritt van Goghs, als er einer Hure sein abgeschnittenes Ohr präsentierte, waren die Roulins die Einzigen, die sich geweigert hatten, eine Petition zur Einweisung van Goghs in eine Anstalt zu unterschreiben. Doch Armand ist ein gehorsamer Sohn und in genau jener gelben Jacke, mit der ihn van Gogh 1888 als Siebzehnjährigen gemalt und in eine Figur der Kunstgeschichte verwandelt hatte, fährt er nach Paris, um Theo van Gogh ausfindig zu machen.
Neben etwa 900 Bildern hinterließ Vincent Van Gogh ebenso viele Briefe, in denen er hauptsächlich seinem Bruder minuziös über Künstleralltag und Seelenzustand Bericht erstattete. Es ging auch darum, die Zuwendungen zu rechtfertigen, die der Kunsthändler in Paris dem Maler zukommen ließ und die zuletzt eine Summe ergaben, wie in „Loving Vincent“ nachgerechnet wird, die für ein Hauses gereicht hätte. Die Beschreibungen des Elends des Malers, der wie kein anderer sein Leben riskiert hat, wie er in seinem letzten Brief schrieb, Leidenschaft und Verzweiflung, Selbstzerstörung, Martyrium und Melancholie boten den begehrten Stoff für eine Filmindustrie, die nach großen Gefühlen und Wahnsinn giert, weshalb van Gogh seit den 40er-Jahren die Vorlage für unterschiedlichste Kinobearbeitungen lieferte.
Eine ganz andere Idee verfolgen Dorota Kobiela und Hugh Welchman im polnisch-britischen Animationsfilm „Loving Vincent“, denn zwischen van Goghs Selbstmord und der Erfindung des Kinos liegen nur wenige Jahre. Sie bringen die Bilder des Malers zum Laufen, Ölbatzen kriechen, von 125 Malern in Handarbeit animiert, wie Würmer über die Leinwand (die Darsteller spielten in einem abstrakten Bluebox-Studio und wurden anschließend in die Gemälde hineinkopiert). Für die Rekonstruktion der letzten Monate im Leben van Goghs haben Kobiela und Welchman eine Detektivgeschichte erfunden.
Da Theo ein halbes Jahr nach Vincent gestorben ist, muss Armand nach Auvers, dem letzten Aufenthaltsort van Goghs, reisen, um dort eine Spur von Theos Witwe zu finden. Statt der rechtmäßigen Empfängerin des Briefes entdeckt Armand ein Mordkomplott. Ins Visier des Detektivs gerät Doktor Gachet (Jerome Flynn), der sich bis zuletzt als Arzt und Freund um Van Gogh gekümmert hat und sich für seine Dienste doch mit Bildern bezahlen ließ. Nachbarn wollen den Arzt und den Maler kurz vor dessen Tod bei einem heftigen Streit beobachtet haben, bei dem es um van Goghs Zuneigung für Gachets Tochter Marguerite (Saoirse Ronan) gegangen sein soll. Für diesen Verdacht sprechen Marguerites tägliche Besuche an van Goghs Grab. Andererseits gibt es auch die üblichen Dorfrüpel, die nie eine Gelegenheit ausgelassen haben, den ängstlichen Maler zu demütigen. Die Ermittlungen sind freilich nur ein Vorwand, durch die Bilder zu flanieren und wie in einer Schule des Sehens nach eigenen Hinweisen in diesem Wunderwerk zu suchen.