Fragiles Kabinett: GroKo-Geburt unter starken Schmerzen
Der Koalitionsvertrag in Deutschland steht – doch die größte Hürde kommt noch. Sagt am Ende die SPD-Basis doch noch Nein?
Von Jörg Blank, Georg Ismar und Christoph Trost, dpa
Berlin – Um 10.31 Uhr fährt der Wagen mit Angela Merkel aus der Tiefgarage, sichtlich erschöpft sieht die deutsche Kanzlerin auf dem Rücksitz aus. Die SPD veröffentlicht kurz darauf ein Selfie-Bild ihrer Unterhändler um Parteichef Martin Schulz. „Müde. Aber zufrieden. Der Vertrag steht“, lassen die Genossen ihre Basis wissen. Ein weiterer mehr als 24-stündiger Verhandlungsmarathon liegt hinter ihnen.
Am Ende haben sie tatsächlich verhandelt, bis es quietscht - so, wie es SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles angekündigt hat. Zwei Verlängerungstage gab es. Ganz zum Schluss, am Mittwoch im Morgengrauen, kommen die Verhandlungen dann nochmal fast zum Erliegen. Stundenlang bewegt sich beinahe nichts mehr.
Scholz als große Überraschung
Der Grund: Nachdem in der Union früh davon die Rede war, dass man der SPD wegen des schwer wackelnden Parteichefs Schulz notfalls sogar drei wichtige Ministerien zugestehen würde - Finanzen, Außen und Arbeit/Soziales - legt jetzt die CSU erstmal ihr Veto ein. CSU-Chef Horst Seehofer habe das Arbeits- und Sozialressort für seine Partei reklamiert, heißt es zwischendurch.
Erst nach längerem Hin und Her auf Ebene der Parteichefs gibt es am Mittwochvormittag Entspannungssignale. Etwas später ist dann klar: Die Verteilung der Ministerien in einem möglichen vierten Kabinett Merkel birgt ein paar faustdicke Überraschungen. Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) soll neuer Finanzminister werden - offensichtlich auch auf ausdrücklichen Wunsch der Unionsspitze, die für diesen Posten auf einen Fachmann bestanden haben soll. Und das Amt des Vizekanzlers soll Scholz obendrein übernehmen.
Schulz macht Kehrtwende
Dass sich die SPD am Ende trotz ihres miserablen Wahlergebnisses tatsächlich mit der Forderung nach drei „starken“ Ministerien durchsetzen kann, dürfte hauptsächlich der Not von Merkel und Seehofer geschuldet sein. Beide wollen vermeiden, dass eine neue Koalition am Ende doch noch am SPD-Mitgliederentscheid scheitert.
Am frühen Nachmittag wird klar, mit welcher Personalrochade es Schulz gelingen soll, seine politische Zukunft zu retten: Er will als Außenminister in Merkels Kabinett gehen - auch wenn er kurz nach der Bundestagswahl einen solchen Schritt strikt ausgeschlossen hatte. Quasi als Preis dafür gibt er den Parteivorsitz schon nach einem Jahr an Fraktionschefin Andrea Nahles ab. Auch das prestigeträchtige Amt des Vizekanzlers ist damit für Schulz passé.
Seehofers Lebensplanung
Auch in der CSU gibt es nach Monaten des Rätselratens endlich Klarheit in einer Top-Personalie. Parteichef Seehofer wechselt zum Abschluss seiner Karriere noch einmal nach Berlin. Das gehöre nicht zu seiner Lebensplanung, hatte er zwar immer wieder gesagt. Doch schon in den geplatzten Verhandlungen mit FDP und Grünen soll Merkel ihm ein wichtiges Ministerium angeboten haben. Viele CSU-Politiker drängten ihn ohnehin.
Schon in der Hochphase der Flüchtlingskrise hatte die CSU ja vor allem auf das Innenministerium geschielt. Nun bekommt Seehofer ein deutlich aufgewertetes Innenressort - aus CSU-Sicht sicherlich eine Möglichkeit, um schon bald inhaltliche Akzente zu setzen. Genauso wie im Verkehrsministerium, das auch den Bereich Digitales umfasst. Auch das Gewicht der CSU-Ministerien ist größer als bisher - selbst wenn die CSU das Agrarministerium nun preisgegeben hat.
CSU personell nun breit aufgestellt
Das ist aus CSU-Sicht das Entscheidende: dass die Chef-Unterhändler mit Erfolgen aus Berlin nach München zurückkehren. Im Herbst ist schließlich die bayerische Landtagswahl, da muss die CSU den Verlust der absoluten Mehrheit fürchten. Die Trophäen - die Ministerposten und inhaltliche Punkte etwa in der Flüchtlingspolitik oder Steuersenkungen - wird die CSU im Wahlkampf sicher groß vermarkten. Personell ist die CSU nun breit aufgestellt: Markus Söder als künftiger Ministerpräsident - der Wechsel soll spätestens Ende März sein - und Seehofer in Berlin.
Dass Merkel bei all den Wünschen der Koalitionspartner den Verlust von zwei wichtigen Ministerien verschmerzen muss, geht trotz der vielen anderen Personalien nicht unter. Die CDU gibt das Finanzministerium und das Innenministerium ab. Vor allem der Verzicht auf das Finanzressort dürfte schmerzen.
„Wir haben wenigstens noch das Kanzleramt“
Zur Ehrenrettung kann Merkel darauf verweisen, dass die CDU sich als Partei des „Vaters der sozialen Marktwirtschaft“, Ludwig Erhard, erstmals seit mehr als 50 Jahren wieder das Wirtschaftsministerium gesichert hat. „Erster Bundeswirtschaftsminister aus der CDU seit 1966. Immerhin“, twittert etwas süffisant Verkehrsminister Nordrhein-Westfalens, Hendrik Wüst. Der Bundestagsabgeordnete Olav Gutting (CDU) formuliert seine Kritik am Verhandlungsgeschick der Kanzlerin auf Twitter noch schärfer: „Puuuh! Wir haben wenigstens noch das Kanzleramt!“ (APA/dpa)