Blick von außen

Das harte Ringen um Reformen

Die Polizisten sollen bei Protesten gegen Ex-Präsident Viktor Janukowitsch friedliche Demonstranten erschossen haben.
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Ende Februar 2014 stürzten die Aktivisten des Euromaidan das alte ukrainische Regime. Vier Jahre später warten sie weiter auf wichtige Reformen. Vor allem der Kampf gegen Korruption lässt zu wünschen übrig.

Von Juri Durkot

Juri Durkot lebt als Journalist und Publizist in Lemberg in der Westukraine. Er hat Germanistik studiert – u. a. in Wien.

Es war eine Kidnapping-Aktion wie aus dem Drehbuch für einen schlechten Krimi. Maskierte Männer stürmen ein Restaurant, überwältigen die Bodyguards, entführen einen Mann, zwängen ihn in einen Minibus hinein und rasen in unbekannte Richtung los. Wenige Stunden später taucht der Mann – aufgewühlt, aber unversehrt – auf einem Flughafen in einem anderen Land auf. Es handelt sich dabei jedoch nicht um einen schlechten Krimi, sondern eher um ein trauriges Schauspiel. Der Titel: „Ukrainische Politik vier Jahre nach dem Euromaidan.“

Es war wohl das Ende der politischen Karriere des ehemaligen georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili in der Ukraine. Er wurde 2015 von seinem alten Spezi – beide kannten sich noch seit ihrer gemeinsamen Studienzeit –, dem amtierenden ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, ins Land geholt, um Reformen voranzutreiben. Im Schnellverfahren wurde Saakaschwili ukrainischer Staatsbürger und stürzte sich als Gouverneur von Odessa in die ukrainische Politik.

Es bleibt unklar, wie sich die beiden die neue politische Zukunft des impulsiven und durchaus umstrittenen Georgiers vorgestellt haben. Sehr bald trat Saakaschwili von seinem Posten zurück, entwickelte sich zu einem der schärfsten Kritiker Poroschenkos und prangerte dabei lautstark das wohl größte Problem in seiner neuen Wahlheimat an – die politische Korruption und die Macht der Oligarchen. Eine Zeitlang ließ ihn Poroschenko gewähren. 2017 folgte der juristisch umstrittene Entzug der Staatsbürgerschaft – ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als sich Saakaschwili in Polen aufhielt –, die Rückkehr in die Ukraine trotz des Einreiseverbots und die Abschiebung nach Polen.

Saakaschwili ist es nicht gelungen, ein Symbol im Kampf gegen die Korruption zu werden. Obwohl er seine Anhänger hatte, konnte er nicht zur führenden Oppositionsfigur aufsteigen. Seine Popularitätswerte hielten sich in Grenzen, und die von ihm gegründete Partei konnte bisher keinen großen Erfolg verbuchen. Trotzdem ist Saakaschwili oder seine Geschichte zu einem Symbol geworden – für das Scheitern der ukrainischen Politik nach dem Euromaidan.

Vier Jahre nach dem Fall des äußerst korrupten und autokratischen Regimes, das durch die versuchte Niederschlagung der Proteste über hundert Menschenleben auf dem Gewissen hat, wirft die Vergangenheit immer noch schwere Schatten über das Land. Die Verantwortlichen für die Erschießungen auf dem Kiewer Maidan setzten sich nach Russland ab, das sofort die Halbinsel Krim annektierte und anschließend den Krieg im Osten der Ukraine anzettelte.

Die prorussischen Separatisten im Donbass riefen zwei „Volksrepubliken“ aus. Sie kämpfen mit Waffen, die von Russland geliefert werden, zusammen mit russischen Freiwilligen und Söldnern, unterstützt von russischen Militärberatern und in einigen Episoden in der Vergangenheit durch den Einsatz von regulären Einheiten der russischen Streitkräfte.

Der Konflikt kostete mittlerweile mehr als 10.000 Menschenleben, über 23.000 Menschen wurden verwundet, mehr als eine Million waren gezwungen, ihre Heimatorte im Donbass zu verlassen und wurden zu Binnenflüchtlingen. Das Ende dieses Krieges ist nicht abzusehen, solange Moskau ihn schwelen lässt. Es ist ein „Krieg auf Sparflamme“, er soll die Ukraine an der kurzen Leine halten.

Es ist schwer, ein Land im Krieg zu reformieren. Aber der Krieg wird in Kiew zunehmend als Begründung genutzt, um das Ausbleiben von Reformen zu rechtfertigen. Nach dem Euromaidan wollten die Menschen nicht nur neue Gesichter an der Macht und in der Politik sehen, der Ruf nach dem Systemwechsel war deutlich wie nie zuvor. Es war eine gewissermaßen unmögliche Aufgabe – alle Behörden und Institutionen zu reformieren, das Geklüngel aus politischen Seilschaften zu durchbrechen, den Einfluss von Oligarchen einzudämmen, die Korruption zu bekämpfen, den Sturzflug der ukrainischen Währung zu stoppen und die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise zu meistern.

Doch es war auch der Unwille von politischen und lokalen Eliten, das System zu ändern, das man für den eigenen Vorteil zu nutzen gelernt hatte. Der Staat war schwach, und die Versuchung, sich auf Kosten des Staates und der Menschen weiter zu bedienen, war groß. Und Poroschenko, der 2014 mit großer Mehrheit zum Präsidenten gewählt wurde, weil er versprochen hatte, die Separatisten schnell zu schlagen und das Land zu reformieren, hat weder das eine noch das andere gemacht.

Es waren vier Jahre Kampf der Gesellschaft mit der Politik um Reformen. Ziemlich bald wurde klar, dass von der Politik kaum große Veränderungen zu erwarten sind. Sobald es gelungen war, die wirtschaftliche und finanzielle Lage mit Hilfe des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu stabilisieren, ließ die Reformbereitschaft stark nach. Einiges ist trotzdem gelungen, doch die Reformen blieben ein Stückwerk. Durch die Reformierung des Systems der öffentlichen Auftragsvergabe konnte der Zugriff der Oligarchen auf die öffentlichen Gelder zwar erschwert, aber nicht eliminiert werden. Früher war es gang und gäbe, dass die „richtigen“ Mitbewerber durch manipulierte Ausschreibungen zu maßlos überteuerten Preisen an öffentliche Aufträge kamen.

Als Paradebeispiel für gelungene Reform gilt bis heute einer der ersten Reformschritte überhaupt: die Auflösung der alten Verkehrspolizei, die für ihre Korruption berüchtigt war, und die Gründung einer neuen Verkehrspolizei – mit jungen und freundlichen Beamten, darunter viele Frauen, die viel besser bezahlt werden und bis heute als wenig korrupt gelten. Hier stand das georgische Beispiel Pate.

Andere Schritte wurden nur durch den gemeinsamen Druck der ukrainischen Zivilgesellschaft und der Europäischen Union möglich. Hier waren vor allem die Auflagen der EU für die Abschaffung der Visumpflicht für die Ukrainer entscheidend. So konnten einige für die Korruptionsbekämpfung wichtige Behörden wie das Nationale Antikorruptionsbüro und die Antikorruptionsstaatsanwaltschaft gegründet werden. Die neue Pflicht für Abgeordnete und öffentliche Amtsträger, ihre Steuererklärungen zu veröffentlichen, bestätigte etwas, was schon vorher klar gewesen war – den unglaublichen Reichtum von politischen Eliten. Das löste eine Empörungswelle aus, blieb aber ohne politische oder gar rechtliche Konsequenzen.

Doch diese Beispiele waren für die ukrainische Politik schon fast zu viel des Guten. 2017 war ein Jahr, in dem die Reformer empfindliche Rückschläge hinnehmen mussten. Vor allem fehlt das entscheidende Glied im System der Korruptionsbekämpfung: die Reform der Gerichte und die Gründung des Antikorruptionsgerichts. Auch wenn der Westen und der IWF die Gründung eines unabhängigen Antikorruptionsgerichts zur Bedingung für die Fortsetzung ihrer finanziellen Unterstützung machen, ist es kaum zu erwarten, dass Kiew den Forderungen nachgibt. Lieber verzichtet man auf Finanzhilfen, solange es geht – ein unabhängiges Gericht ist eine zu große Gefahr für die heutige Elite.

Das Vertrauen in die Politik hat in der ukrainischen Bevölkerungen einen neuen Tiefpunkt erreicht. Man ist darüber enttäuscht, dass das alte System – wenn auch nicht in seinen schlimmsten Auswüchsen – und die Selbstbedienungsmentalität der Amtsträger intakt geblieben sind. Zudem können sich die Straflosigkeit der Korruptionäre und die Verantwortungslosigkeit der Politik auch schnell rächen – insbesondere in einer Situation, wo es den meisten Ukrainern wirtschaftlich nicht besonders gut geht. Bisher konnte noch kein Populist, ob rechts oder links, aus der immer größeren Enttäuschung der Menschen Kapital schlagen. Doch das kann sich ändern. Und selbst wenn es nicht passiert, sollten der Präsident, seine Gefolgschaft und die politischen Eliten nicht glauben, dass sie gewonnen haben. Denn schließlich werden die Menschen und das Land verlieren und somit auf lange Sicht auch seine Eliten.