In der Hauptrolle: Die Unsicherheit
München ist seit gestern für drei Tage der Brennpunkt der Weltpolitik. Für Österreich ist Kanzler Kurz dabei.
Aus München: Christian Jentsch
München – Vorhang auf für das große Weltentheater in München: Während vor dem Luxushotel Bayerischer Hof gestern Tausende Polizisten aufmarschierten und die Münchner Innenstadt zur Hochsicherheitszone mutierte, tummelte sich im Inneren des altehrwürdigen und für diese Dimension eigentlich viel zu kleinen Hotels das „Who’s who“ der Weltpolitik.
Mehr als 20 Staats- und Regierungschefs sowie 80 Außen- und Verteidigungsminister sind zur Sicherheitskonferenz nach München gereist, darunter Israels Premier Benjamin Netanjahu, die britische Premierministerin Theresa May und Schwergewichte wie der russische Außenminister Sergei Lawrow. Mittendrin auch Bundeskanzler Sebastian Kurz, der heute mit einer Europarede seine Vorstellungen von der Zukunft der EU inmitten einer von immer größerer Unsicherheit geprägten Welt skizzieren will.
Das „Verschwinden von Ordnungsmächten“ und der „Zerfall“ der liberalen Weltordnung haben laut dem Leiter der Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, die Welt in eine Phase „maximaler Verunsicherung“ gestürzt. Das Chaos führt Regie im Weltentheater, die Fundamente der nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten Weltordnung beginnen zu bröckeln. Tweets aus dem Weißen Haus versetzen die Welt fast täglich in Aufregung, in Syrien tobt ein brutaler Stellvertreterkrieg all der Regional- und Supermächte, und die Ukraine-Krise hat die Mauern und das Misstrauen zwischen Europa und Russland wieder in den Himmel wachsen lassen.
Kurz sieht auch innerhalb der EU die Fliehkräfte derzeit stärker als das Verbindende, wobei vor allem die Flüchtlingskrise Europa auseinanderdividiert hätte. Der Kanzler pocht daher darauf, sich auf die Grundidee der EU zu besinnen, nämlich „in Vielfalt geeint“. Derzeit sieht er Europa eher in „Gleichheit getrennt“. Kurz drängt auf ein subsidiäres Europa, das in großen Fragen Einigkeit demonstriert, andere Fragen aber lieber den einzelnen Nationalstaaten überlässt. Zu den großen gemeinschaftlichen Aufgaben Europas zähle etwa die Stärkung im globalen Wettbewerb, auch was die Digitalisierung betrifft. „Die Schnellen fressen die Langsamen“, heiße hier das Motto.
„Auch in Sicherheitsfragen wird die Unsicherheit immer größer“, erklärt Kurz, der auf die Verwerfungen in der Arabischen Welt, die Ukraine-Krise, Gefahren durch den Terrorismus und die Folgen der Flüchtlingskrise und der Migrationsströme verweist. In Sachen Sicherheit und Verteidigung müsse Europa an einem Strang ziehen, da ziehe sich auch Österreich als neutrales Land nicht aus der Verantwortung. Der Schutz der Außengrenze könne nur geeint gelingen, wobei die betroffenen Länder nicht im Stich gelassen werden dürften.
In Sachen Türkei bleibt der Bundeskanzler bei seiner harten Linie: „Wir brauchen ordentliche nachbarschaftliche Beziehungen zur Türkei, in der Union können wir uns die Türkei aber nicht vorstellen, auch – aber nicht nur – in Anbetracht der Menschenrechtslage im Land.“
In den Beziehungen zu Russland sieht Kurz Österreich in der Rolle des Brückenbauers. Ohne Fortschritte im Friedensprozess werden die Sanktionen der EU gegen Russland zwar bleiben, Österreich werde seine traditionell guten Beziehungen zu Russland und auch zur Ukraine aber natürlich für einen Abbau der Spannungen nützen.
Noch gestern traf Kurz im Rahmen der Sicherheitskonferenz mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zusammen, um das Verhältnis der EU zur NATO, das Verhältnis der NATO zu Russland und die Ukraine-Krise zu besprechen. Heute stehen unter anderem Treffen mit IWF-Chefin Christine Lagarde, EU-Brexit-Chefverhandler Michael Barnier und dem Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, auf dem Programm.