Literatur

Trauerarbeit mit Untoten

George Saunders, der als Meister der kleinen Form bekannt wurde, legt mit „Lincoln im Bardo“ seinen ersten Roman vor. 2017 erhielt er dafür den Booker Prize.

Von Joachim Leitner

Innsbruck –Geheiratet hat Hans Vollmann in guter Absicht, aber ohne Illusionen: Seine Frau ist um einiges jünger und um ein Vielfaches ärmer als er. Deshalb hat sich das Paar auf eine freundschaftliche Verbindung geeinigt. Dass sich nach Monaten enthaltsamer Zuneigung trotzdem Beischlaf anbahnt, bringt Vollmann beinahe aus der Fassung. Stunden vor dem Vollzug der Ehe wird er von einem Balken erschlagen. Tot ist er allerdings noch nicht. Jedenfalls nicht ganz. Er – oder das, was von ihm übrig blieb, seine Erektion gewordene Seele – übersiedelt in den Bardo. So nennt man im Buddhismus jenen zeitlosen Raum an der Pforte des Jenseits. In dieser Zwischenwelt trifft er auf andere Untote, die sich mehr oder weniger verzweifelt ans Leben klammern. Auf den glücklosen Roger Bevins III. zum Beispiel, der sich in einem Moment der Enttäuschung mit großer Geste die Pulsadern aufschnitt und es bitter bereute, weil er ohne Erfolg auf Rettung wartete.

In wenigen Strichen entwirft George Saunders diese großen und kleinen Tragödien. So kennt man das von ihm. Der US-Amerikaner ist einer der Meister der grimmig-lakonischen – und bisweilen furchtbar komischen – Short Story. Die Geschichten von Vollmann und Bevins sind aber – genauso wie jene zahlloser anderer Stimmen, die sich immer wieder ins Wort fallen – Teil einer umfangreichen Erzählung. „Lincoln im Bardo“ ist Saunders’ erster Roman überhaupt. Und er ist eine Sensation. Nachdem er im Vorjahr mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, liegt er jetzt, makellos übertragen von Frank Heibert, auch auf Deutsch vor.

Im Zentrum des Buches steht eine historisch beglaubigte Episode: In der Nacht vom 20. Februar 1862 stirbt Willie, der 11-jährige Sohn von US-Präsident Abraham Lincoln, an Typhus. Dass Willies Eltern am selben Tag zum großen Festbankett luden, war damals Gegenstand einer um keine Bösartigkeit verlegenen publizistischen Kontroverse. Nicht etwa wegen des sterbenden Sohnes in einem der oberen Stockwerke des Weißen Hauses, sondern weil Lincoln gerade einen bestialischen Bürgerkrieg zu gewinnen hatte. Auch dass der Präsident den Tod seines Buben nicht wahrhaben wollte und er dessen Grabstätte in Georgetown mehrfach öffnen ließ, um den Leichnam im Arm zu halten, ist verbürgt. Darum herum allerdings entwirft Saunders seine vielstimmige Geistergeschichte. Die Untoten, selbst unfähig, vom Leben zu lassen, setzen alles daran, dass wenigstens der trauernde Vater das Loslassen lernt. „Lincoln im Bardo“ ist eine rührende Erzählung – und sie ist irrwitzig. Tote beschwören den Reichtum des Lebens – ohne dabei dessen Schattenseiten auszublenden. Weil sie wissen, was ihnen verloren ging, treiben sie Lincoln zum Weitermachen an – und ermöglichen Willie den Weg ins Nirwana. Schon formal sprengt der Roman den Rahmen: Saunders erzählt nicht chronologisch vor sich hin, er montiert, setzt seinen Roman aus echten und fragwürdigen Zitaten zusammen. Manche bestätigen einander, andere widersprechen sich: Vollmond, Halbmond, klar, wolkenverhangen. Was soll’s. So stellt Saunders die Glaubwürdigkeit historischer Überlieferung in Frage. Auch daraus speist sich die Spannung dieses großen, ja großartigen, weil bisweilen hinterhältig sperrigen und um keinen derben Kalauer verlegenen Romans, der seine Leser nicht zuletzt eines lehrt: Das Leben mag eine Serie von Rück- und Niederschlägen sein, aber es ist das einzige, das wir haben.

Roman George Saunders: Lincoln im Bardo. Aus dem Englischen von Frank Heibert. Luchterhand. 453 Seiten, 25,70 Euro.