Russische Literatur für Anfänger: Von Tolstoi bis Schischkin
Beim Thema russische Literatur fällt vielen oft nur die Frage ein, wer der größere Schriftsteller war: Dostojewski oder Tolstoi? Aber auch wenn man diese beiden Größen nicht außer Acht lassen darf, hat die russische Literatur noch einiges mehr zu bieten. Ein kleiner Überblick über interessante Schriftsteller und ihre Werke.
1. Fjodor Dostojewski: Der verstorbene Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki hat einmal gesagt, er halte Dostojewskis „Die Brüder Karamasow", in dem es um die Frage der Täterschaft nach der Ermordung des alten Karamasow geht, für den besten Roman der Welt. Und damit hat er gar nicht so unrecht. Dostojewskij verstand es in seinen Werken meisterlich, mit literarischen Mitteln einen Blick in die Abgründe des Menschen zu werfen. Der erste große Roman des zeitlebens stark kritisierten Schriftstellers war „Schuld und Sühne" (in neueren Übersetzungen „Verbrechen und Strafe). In der Haupthandlung geht es um den Jura-Studenten Rodion Romanowitsch Raskolnikow. Nach einem zufällig belauschten Wirtshausgespräch entwickelt er die Idee eines „erlaubten Mordes", der letztlich auch in der Tötung der Pfandleiherin Aljona Iwanowna und ihrer Schwester Lisaweta gipfelt. Neben den beiden genannten Romanen zählen auch noch „Der Idiot", „Der Spieler", „Die Dämonen" und „Der Jüngling" zu den herausragenden Werken des Autors.
2. Leo Tolstoi: Gibt es einen schöneren Liebesroman als Tolstois „Anna Karenina"? Viele würden diese Frage mit „Nein" beantworten. Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi hat mit verwobenen Geschichte dreier adligen Familien einen Klassiker der Weltliteratur geschaffen, den jeder kennen sollte: Hauptfiguren sind der Fürst Stepan Oblonski und seiner Frau Darja, genannt Dolly, ihrer jüngeren Schwester Jekatarina Schtscherbazkaja, genannt Kitty. Vor allem aber geht es um Anna Karenina, die Schwester des Fürsten, die mit dem Staatsbeamten Alexej Karenin verheiratet ist. Als Anna eine Liebesaffäre mit dem Grafen Alexej Wronskij eingeht, hat das schließlich das Ende ihrer Ehe und den Selbstmord Kareninas zufolge. Nicht minder bekannt und bedeutend ist Tolstois zweiter großer Roman „Krieg und Frieden". Das historische Werk wurde weltberühmt, weil es wie mit einem Blick durch eine Lupe die Zeit von 1805 bis 1812 aus russischer Sicht in beeindruckender Geschlossenheit darstellt.
3. Boris Pasternak: Keinesfalls vergessen werden darf der Schriftsteller Boris Pasternak, der mit seinem Roman „Doktor Schiwago" nicht nur eines der bedeutendsten Werke der russischen Literaturgeschichte geschaffen hat. Für das Werk, dessen Handlung sich um den Ersten Weltkrieg, die Oktoberrevolution und den russischen Bürgerkrieg dreht, wurde er 1958 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Doch anstatt in seiner Heimat dafür gefeiert zu werden, wurde Pasternak in der Sowjetunion zum Staatsfeind — die Menschen bezeichneten ihn als Verräter und Volksfeind und trieben ihn mit ihrem Hass beinahe zum Suizid. Pasternak musste für seinen „Doktor Schiwago" bezahlen: Einstimmig wurde er vom sowjetischen Schriftstellerverband verstoßen und vom KGB rund um die Uhr überwacht. Schließlich nahm er den Nobelpreis nicht an, als „Geste der Beschwichtigung", wie er sagte. Zwei Jahre später starb der Dichter und Schriftsteller als gebrochener Mann. Offiziell wurde „Doktor Schiwago" übrigens erst 1988 in der Sowjetunion publiziert.
4. Alexander Solschenizyn: Ebenfalls mit dem Literaturnobelpreis wurde Alexander Solschenizyn ausgezeichnet, er erhielt den wichtigsten Literaturpreis 1970. In seinem Hauptwerk „Der Archipel Gulag" schreibt Solschenizyn über die Verbrechen des leninistischen und stalinistischen Regimes bei der Verbannung und systematischen Ermordung von Millionen von Menschen im Gulag. Nach seiner Kritik am Stalinismus wurde er von 1945 bis 1956 selbst in Strafgefangenen-Lagern eingesperrt. 1974 wurde der russische Schriftsteller aus der Sowjetunion verbannt. Einige Zeit verbrachte er daraufhin bei Heinrich Böll, später zog er in die Schweiz und dann in die USA. Erst 1994 kehrte er nach Russland zurück. Solschenizyn erreichte ein stattliches Alter: Er starb 2008 mit 89 Jahren.
5. Viktor Pelewin: Ganz in der Tradition seiner berühmten Vorgänger gehört Pelewin zu jenen Literaten der Gegenwartsliteratur, die sich mit den Vorgängen in der russischen Gesellschaft auseinandersetzen und mit überspitzten Darstellungen aufzeigen, was in der Gesellschaft vorgeht. Pelewin zählt zu den meistgeschätzten russischen Denkern und veröffentlicht beinahe im Jahrestakt ein neues Buch. Den Status des Kultautors hält sich Pelewin aufrecht, indem er sich so gut wie gar nicht in der Öffentlichkeit präsentiert, er gibt kaum Interviews und kommuniziert mit seinen Fans hauptsächlich über das Internet. Das tut seiner Beliebtheit aber keinen Abbruch — eher im Gegenteil. Unbedingt lesenswert von dem Erfolgsautor sind die Werke „Buddhas kleiner Finger" und „Das heilige Buch der Werwölfe".
6. Ljudmila Ulizkaja: Ljudmila Ulitzkaja gilt als eine der wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Russlands. Sie startete spät in ihre Karriere — ihr erstes Buch veröffentlichte die Autorin im Alter von 50 Jahren. Ihre Bücher appellieren an die Menschlichkeit und greifen zahlreiche persönliche, aber auch gesellschaftliche und ethische Probleme auf. Ihre Hauptwerke sind „Daniel Stein", „Sonetschka" sowie „Medea und ihre Kinder". 2014 wurde Ulitzkaja mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet.
7. Michail Schischkin: Der Literat und ehemalige Journalist Schischkin hat in Russland schon die wichtigsten Literaturpreise abgeräumt, die es gibt. In Europa ist er erst seit den frühen 2000er-Jahren bekannt, obwohl er schon seit 1995 mit seiner Frau in der Schweiz lebt. Seit Erscheinen seines Romans „Das Venushaar" 2005 lebt er ausschließlich von seiner schriftstellerischen Tätigkeit und hat sich auch hierzulande einen Namen gemacht. Das Thema in „Venushaar" ist übrigens brisanter denn je: Es geht um die Asylthematik.
8. Wladimir Sorokin: In vielen seiner literarischen Werke verstößt Sorokin gezielt gegen politische und moralische Tabus und gilt deshalb als Enfant Terrible der russischen Literatur. Da seine Romane zunächst nur in Westeuropa veröffentlicht wurden, wurde Sorokin in seiner Heimat erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bekannt. Mit seinen provokanten Texten hat er aber auch in seiner Heimat schnell für Furore gesorgt. In vielen seiner Romane wie dem „Zuckerkreml", „Schneesturm" oder „Telluria", vermischt Sorokin Zukunft und Vergangenheit — und zwar sowohl auf der sprachlichen als auch auf der erzählerischen Ebene. Er scheut sich nicht davor, Tabuthemen, Obszönitäten und Gewalt zu thematisieren. Als eines der bekanntesten Werke Sorokins gilt der 2006 erschienene Roman „Der Tag des Opritschniks", der zum regelrechten Kultbuch avancierte. Darin geht es um eine fiktive Realtiät im Jahr 2027, in der die mit Sonderprivilegien ausgestattete Schutzstaffel der Opritschniki das Land von aufsässigem Gesindel säubert. Trotz des Datums in der Zukunft ist im „Tag des Opritschiks" die Gegenwart erkennbar. Gemäß Sorokin ist das gegenwärtige Russland nur noch mit den grotesken Mitteln der Satire abzubilden.
9. Dina Rubina: Die russisch-israelische Schriftstellerin gilt als eine der wichtigsten Protagonistinnen in der zeitgenössichen russischen Literatur. Dabei schafft sie den oft schwierigen Spagat, Kritikern und Lesern gleichermaßen zu gefallen. Hinter ihrem wunderbaren und detailgetreuen Stil steckt aber Akribie und viel Arbeit: Rubina arbeitet bis zu 14 Stunden am Tag, recherchiert für ihre Werke bis ins kleinste Detail und feilt an ihren Texten so lange, bis sie zufrieden ist. Manchmal dauert das dann auch länger — wie beispielsweise bei ihrem Meisterwerk „Auf der sonnigen Seite der Straße", an dem sie insgesamt rund 25 Jahre arbeitete. Der Roman wurde mit dem Bolschaja-Kniga-Preis geehrt, einer der bedeutendsten literarischen Auszeichnungen Russlands. Lesens- und empfehlenswert sind außerdem ihre preisgekrönten Romane „Hier kommt der Messias" und „Syndikat".
10. Boris Akunin: Boris Akunin hat einmal gesagt, seine ersten drei Krimis habe er nur zur Entspannung geschrieben, denn Krimischreiben sei spannender als Computerspielen. Mit dieser Aussage stellt er seinen Erfolg aber unter den Scheffel, denn Akunin ist einer der gefeiertsten Krimiautoren Russlands. Schon mit seinem ersten Krimi „Fandorin" trat Grigori Tschchartischwili, wie Akunin wirklich heißt, eine Lawine los. Weil Kriminal-(Groschen)romane vor allem in Intellektuellenkreisen in Russland nicht den besten Ruf haben, entschied sich der Philologe, Kritiker, Essayist und Japanologe zu seinem Synonym, eben Boris Akunin. Seine Romane haben mittlerweile ihren Weg ins Englische, Französische, Deutsche sowie ins Japanische gefunden. Für Verfilmungen gibt es Interesse aus Hollywood. Akunin engagiert sich aber auch politisch. Nach den Dumawahlen in Russland 2011 wurde er zu einem der Wortführer der Bewegung für faire Wahlen.