Tiroler Volksschauspiele

Mitterers “Die wilde Frau“: Am Abgrund der Seele

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© Günther Egger

Das Stück „Die wilde Frau“ von Felix Mitterer erzählt von Empathieverlust und von der Verrohung des Menschen.

Von Gerlinde Tamerl

Telfs –Es ist dunkel. Ein rauer Wind bläst Schnee durch das undichte Hüttendach. Von schwerer Arbeit gezeichnet, betreten vier Holzfäller die karge Stube, werfen ihr Werkzeug polternd in eine Ecke, um sich gleich darauf um einen Tisch zu drängen. Der jüngste unter ihnen schleppt hinkend das Essen herbei, über das sich die vier Männer gierig hermachen. Sie provozieren einander, bis die Stimmung eskaliert und in Geschrei übergeht, bei dem Fontänen von Speichel aus den geifernden Mündern spritzen.

Das Mitterer-Stück „Die wilde Frau“, 1977 entstanden, feierte vorgestern bei den ausverkauften Telfer Volksschauspielen Premiere. Es erzählt von fünf Holzfällern, die auf einer abgelegenen Hütte ein hartes Dasein fristen. Familienvater Jogg (Helmuth A. Häusler) lässt sich rasch als Anführer der Truppe identifizieren. Mit dem dauerbetrunkenen Ex-Häftling Lex (Francesco Cirolini) liefert er sich brutale Gefechte. Much (Edwin Hochmuth) hingegen ist der Prototyp eines Mitläufers, der sich mit den Stärksten solidarisiert. Der gebrechliche alte Hias (Peter Mitterrutzner) kann es zwar mit den Burschen körperlich nicht mehr aufnehmen, kommentiert jedoch das Gerangel mit launigen Volksweisheiten. Der junge, körperbehinderte Wendl (Lucas Zolgar) ist in der Hierarchie ganz unten angesiedelt, und damit den Demütigungen der Männer schutzlos ausgeliefert.

Eines Abends sichten die Holzfäller vom Hüttenfenster aus ein weibliches Wesen, verkörpert von Lisa Hörtnagl, das kurze Zeit später in ihrer Stube erscheint. Aufgeregt und neugierig nehmen die Männer die geheimnisvolle Schönheit bei sich auf, müssen jedoch frustriert feststellen, dass sie kein Wort spricht. Die Stummheit der Frau und ihr abwehrendes Verhalten wird von den Männern als Provokation empfunden und schürt ihr aggressives Begehren. Als Anführer Jogg der Frau sein Bett für die Nacht anbietet, nimmt das Unheil seinen Anfang. Jeder der Holzfäller, mit Ausnahme von Wendl, wollen die stumme Namenlose für sich besitzen. Daraus resultiert brutale sexuelle Gewalt.

Indem Regisseur Klaus Rohrmoser die stumme Frauenfigur aus ihrer märchenhaften Rolle herauslöst und sie mit mehr Machtbewusstsein ausstattet, verharrt sie nicht nur in einer reinen Opferrolle. Sie legt sich mit den Männern an, und wehrt sich aktiv gegen ihre Angriffe. Authentisch und radikal, mit beeindruckender Körpersprache setzt die Schauspielerin Lisa Hörtnagl die Rolle dieser stummen Frau um. Mit aller Kraft kämpft sie gegen die sexuellen Übergriffe an, und verteidigt damit erfolgreich ihr Leben. Die Brutalität, die sie dabei erfährt, ist beklemmend: Sie wird geschlagen, vergewaltigt und an den Füßen über die Bühne gezerrt. Wendls Zwischenrufe berühren, Lucas Zolgar überzeugt in dieser körperlich fordernden Rolle. Peter Mitterrutzner als schelmischer Hias lockert diese beklemmende Atmosphäre mit seinen tragisch-komischen Volksweisheiten auf und holt sich damit die Sympathien des Publikums.

Klischeebehaftet, aber schauspielerisch nicht weniger fordernd sind die Charaktere Jogg und Lex. Konsequent spielen Helmuth A. Häusler und Francesco Cirolini die brutalen Gewalttäter, denen es an Empathiefähigkeit und Selbsterkenntnis mangelt. Abgesehen von den Geschlechterklischees hat das Stück nicht an Aktualität eingebüßt. Eindringlich zeigt es die Verrohung des Menschen auf.