Politologe: „Wir selbst schaffen Parallelgesellschaften“
Der Fall Mesut Özil wirft Fragen auf: Wann gilt man eigentlich als integriert? Und werden Zuwanderer überhaupt jemals vollkommen akzeptiert? „Beide Seiten sind gefordert“, sagt Politologe Reinhold Gärtner.
Was bedeutet es, integriert zu sein?
Reinhold Gärtner: Wenn man zu einer Gruppe dazugehört. Frage ist, wer die Kriterien dafür festlegt. Ganz zentral ist die Achtung von Menschenrechten und das Bekenntnis zu einem demokratischen Rechtsstaat. Das müssen alle Gruppenmitglieder akzeptieren. Eine weiterer zentraler Punkt ist die Sprache, und da muss einfach klar sein, dass in Österreich ohne Deutsch wenig geht. Wer kommunizieren und beruflich weiterkommen will, braucht Deutsch.
Welche Aufgabe hat das Zuwanderungsland?
Gärtner: Die Aufnahmegesellschaft muss die Rahmenbedingungen so schaffen, dass ein Zugang auch möglich ist, dass sich auch andere der Gruppe zugehörig fühlen können. Es wäre nicht zielführend, wenn es heißen würde, gut, dass ihr Deutsch sprecht, aber bitte ohne Akzent. Das wäre ein Ausschließungsgrund. Wenn es eine gemeinsame Basis gibt, ist sehr viel möglich. Es hängt aber nicht nur von den anderen ab. Sie können sich integrieren, so viel Sie wollen, wenn der Dominantere das nicht zulässt, werden Sie keine Chance haben.
Warum verbergen manche ihre Herkunft?
Gärtner: Hier geht es um einen weiteren zentralen Punkt. Es muss mehrfache Zugehörigkeiten geben, dass ich mich als Tiroler fühlen kann, aber gleichzeitig als Oberösterreicher oder als Türke oder Albaner. Dass das Teil meiner Identität ist und einen anderen nicht ausschließt. Dass ich nicht sagen muss, ich bin Österreicher oder Türke, sondern beides. Dann kann Integration gelingen. Die Frage ist, welche Hürden da eingebaut werden. Immer wenn es um Ausschließlichkeiten geht, wird’s gefährlich. Wenn ich den einen Teil verstecken muss, um für den anderen anerkannt zu werden. Ganz gleich zu sein, geht nicht, Homogenität gibt’s nur in Diktaturen, dort wird sie künstlich geschaffen. Demokratie lebt von der Heterogenität, sie ist etwas Positives und sollte forciert werden.
Was müssen beide Seiten leisten?
Gärtner: Dass bei uns keine Zwangsehen erlaubt sind und es in unserer Rechtsordnung keine Ehrenmorde gibt, das ist so und Punkt. Das hat jeder zu akzeptieren, der zu uns gehören will. Umgekehrt müssen wir akzeptieren, dass die Menschen ein anderes Freizeit- und Essverhalten haben. Wir „echten“ Österreicher ernähren uns auch unterschiedlich, das kann nicht das Problem sein. Dann ist es möglich, dass die einen Schweinefleisch essen und die anderen vielleicht vegan, aber sie bleiben Teil der Gruppe. Dass es unterschiedliche Religionsgemeinschaften gibt, sich Menschen verschieden kleiden, diese oder jene Musik hören. Es muss festgelegt werden, wie Zusammenleben gestaltet werden soll und welche Wege hinführen.
Wird auf Ethnizität zu viel Wert gelegt?
Gärtner: Es ist wichtig, sie nicht als oberstes Kriterium zu sehen. Sie wird sehr stark betont, aber sie soll doch bitte nicht entscheiden über die Wertigkeit von Menschen. Abstammung ist zufällig, die sucht man sich nicht aus.
Weshalb entfernt man sich voneinander?
Gärtner: Das geschieht auf beiden Seiten. Die einen haben womöglich Angst vor dem anderen, dem Fremden. Aber die anderen suchen einen Halt, den sie in der Aufnahmegesellschaft nicht finden. Das heißt, es kommt zu einer Art ethnic revival, man besinnt sich der alten Wurzeln, weil man dort Halt findet. So entstehen Parallelgesellschaften. Je weniger wir Zuwandernden die Möglichkeit geben, Teil unserer Gruppe zu werden, desto eher werden sie sich etwas anderes suchen. Wir sind selbst schuld daran, wenn es in die falsche Richtung geht, wenn weitere Parallelgesellschaften entstehen. Aktuell geht es stark in Richtung Desintegration. Wenn dadurch bestimmte Probleme verstärkt werden, braucht man sich nicht zu wundern. Wenn man das will, dann muss man so weitertun. Und wenn man das nicht will, muss man etwas dagegen unternehmen.
Geht es in Österreich in diese Richtung?
Gärtner: Ja. Derzeit geht es ganz stark in Richtung Abschottung und Exklusion, Aber Migration oder Wanderung ist ein weltweites Phänomen. Das ist die Realität, der muss sich auch Österreich stellen. Sonst bräuchte man ziemlich hohe Grenzen ums ganze Land herum.
Die Interviews führte Michaela S. Paulmichl
Philipp Timofeev (Zugbegleiter): „Ich habe in der Ukraine die Schule abgeschlossen und bin danach mit meinen Eltern ins Zillertal gezogen. Die erste Zeit war schwierig, weil ich noch kein Deutsch konnte. Aber dann haben mich Kollegen überallhin mitgenommen, wir haben zuerst Englisch gesprochen, dann Tiroler Dialekt. Ein Freund hat mir aber geraten, Hochdeutsch zu lernen. Wer in ein anderes Land kommt, muss sein Verhalten an die dortigen Regeln anpassen, die Sprache erlernen und Arbeit suchen. Österreich ist ein sehr tolerantes Land, wer Schutz und Hilfe braucht, der bekommt sie auch. Ich versuche ein gutes Vorbild für andere zu sein: Schaut, der hat etwas erreicht. Es funktioniert, wenn man sich bemüht. Mit meinen Russischkenntnissen kann ich auch nützlich sein. Natürlich habe ich auch negative Erfahrungen gemacht, man kann die Leute nicht zwingen, jemanden zu akzeptieren. Aber wenn man sich dann näher kennen lernt, ändert sich das ohnehin meistens.
Derya Nonnato (Erziehungswissenschafterin):
„Ich bin in Österreich geboren, türkisch-kurdischer Herkunft und helfe Menschen beim Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt. Ich denke, wir alle haben Mehrfachzugehörigkeiten, die man im Alltag als Bereicherung und als Herausforderung erlebt. Niemand ist eindeutig, alle haben Vorfahren, die aus verschiedenen Ländern kommen, bis sie zu Österreichern wurden. Auch als Gesellschafts-, Kultur- und Werteform sind wir nicht eindeutig. Und dennoch heißt es, ,wir und die anderen‘, die Mehrheitsgesellschaft und die Fremden, die, die nicht dazugehören. Die Frage ist auch, warum grundsätzlich so destruktiv damit umgegangen wird und Menschen als Bedrohung gesehen werden. Es gibt viele Widersprüche. Wer bestimmt, wer integriert ist und wer nicht? Für eine produktive und gemeinschaftliche Gesellschaft ist das nicht förderlich. Nur wenn man einen Platz auf Augenhöhe bekommt, kann man sich aktiv einbringen. Aber es wird verleugnet, dass der Zugang zur Teilhabe an der Gesellschaft bestimmten Menschen sehr schwergemacht wird. Ab wann gehört man dazu? Bleibt eine offene Frage.“
Denis Husic (Trainer SV Wörgl):
„Ich bin gebürtiger Kufsteiner, hab’ aber Wurzeln in Bosnien. Ich fühle mich als ,Daiger‘ und hatte auch nie Probleme. Es gibt zwar Ausnahmen, aber ich bin nicht auf den Mund gefallen und weiß mich zu wehren. Mein Sohn spielt in einer Mannschaft in Deutschland, und leider muss ich sagen, dass in Österreich Dinge passieren, die dort nicht möglich wären. Die machen keinen Unterschied. Ob du Mair, Husic oder Erdogan heißt, ist egal. Bei uns ist das nicht so. Wir haben Spieler aus vielen Nationen und die werden oft beschimpft. Da sind Beleidigungen dabei, die will ich gar nicht wiederholen, auch die ganz Jungen sind betroffen. Und es wird immer schlimmer. Ich bin abgehärtet, aber jeder geht anders damit um. Manche überlegen gar nicht, was sie da sagen. Der Mensch braucht den anderen in jeder Hinsicht. Ohne ausländische Kinder gäbe es viel weniger Vereine und bei den Baustellen sicher zu wenige Arbeiter.“
Akif Güclü (Trainer SV Hall):
„Ich bin hier geboren, fühle mich als Tiroler und bin wirklich glücklich. Ob man integriert ist, hängt auch von einem selbst ab. Für mich gibt es nur ein Miteinander voller Respekt. Ich bin für Menschenrechte und Dialog, weil nur im Gespräch kann man feststellen, der ist in Ordnung, die Vorurteile fallen vielleicht weg. Dass ich türkische Wurzeln habe, sehe ich als Vorteil, ich bin beides. Die Diskussion mit dem Führerschein ist für viele eine Bestätigung: Die wollen uns nicht! Menschen verändern sich nicht, nur Regierungen, und Fanatiker gibt es überall. Dass Spieler beleidigt und beschimpft werden, kommt immer wieder vor, aber das betrifft nicht nur den Fußball. Ich mache mir Gedanken, wo das hinführen soll. Was ist Integration? Eine gute Frage. Wer bestimmt, wann man integriert ist? Mir wird manchmal vorgeworfen, dass ich keinen Alkohol trinke und dadurch nicht integriert bin, aber ich kann trotzdem mit meinen Spielern feiern.“