Fall Tolu - Kritik an türkischer Justiz nach Ende der Ausreisesperre

Ankara/Berlin (APA/dpa) - Die wegen Terrorvorwürfen in der Türkei angeklagte deutsche Journalistin Mesale Tolu darf nach mehr als 15 Monaten...

Ankara/Berlin (APA/dpa) - Die wegen Terrorvorwürfen in der Türkei angeklagte deutsche Journalistin Mesale Tolu darf nach mehr als 15 Monaten das Land verlassen. Ihre Ausreisesperre sei nach Einspruch ihrer Anwälte aufgehoben worden, bestätigte Tolu am Montag via Twitter. Tolus Solidaritätskreis „Freiheit für Mesale Tolu“ wies in einer Mitteilung am Morgen darauf hin, dass ihr nach wie vor 20 Jahre Haft drohten.

Tolu, die für die linke Nachrichtenagentur Etha arbeitete, wird Mitgliedschaft in der linksextremen MLKP vorgeworfen, die in der Türkei als Terrororganisation eingestuft wird. „Von einem rechtsstaatlichen Verfahren kann weder für Mesale noch für alle anderen zu Unrecht inhaftierten Menschen die Rede sein“, hieß es seitens des Solidaritätskreises.

Auch Politiker reagierten erleichtert auf die Aufhebung der Ausreisesperre, kritisierten aber zugleich mangelnde Rechtsstaatlichkeit in der Türkei. „Jede Freilassung von Inhaftierten (in Ländern), bei denen der Rechtsstaat meines Erachtens nicht voll funktioniert, ist ein guter Schritt“, sagte EU-Budgetkommissar und CDU-Politiker Günther Oettinger vor Gremiensitzungen seiner Partei in Berlin. Der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) erinnerte daran, dass noch mindestens sieben Deutsche „aus politischen und für uns nicht nachvollziehbaren Gründen“ in der Türkei inhaftiert seien.

Tolus Ausreise sei für den kommenden Sonntag geplant. Die aus Ulm stammende 33-Jährige solle mit ihrem kleinen Sohn am Flughafen in Stuttgart ankommen. Die Tage bis zur Ausreise wolle sie mit ihrer Familie in der Türkei verbringen und sich von Freunden verabschieden.

„Ein mehr als einjähriger Kampf um die Freiheit geht zu Ende“, freute sich der Präsident des Österreichischen Journalisten Clubs (ÖJC), Fred Turnheim, am Montag in einer Aussendung. Tolu schreibt demnach auch für österreichische Medien. Gemeinsam mit Yücel wurde sie im Dezember vom ÖJC mit dem erstmals vergebenen „Dr. Karl Renner - Solidaritätspreis“ geehrt.

Tolu bedankte sich via Twitter bei ihren Unterstützern und erinnerte daran, dass das Verfahren gegen sie nicht eingestellt wurde: „Diese Entwicklung bedeutet aber nicht, dass alles vorbei ist: Der Prozess geht am 16. Oktober weiter“, schrieb sie. Nach Angaben des Solidaritätskreises bleibt zudem die Ausreisesperre ihres türkischen Ehemannes, Suat Corlu, der im selben Verfahren angeklagt ist, vorerst bestehen.

Der Geschäftsführer der Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG), Christian Mihr, forderte: „Die türkische Justiz muss jetzt auch die absurden Vorwürfe gegen Mesale Tolu fallenlassen und die Ausreisesperre gegen ihren Mann aufheben“. Ähnlich äußerte sich Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth (Grüne): „Es war überfällig, dass Frau Tolu ausreisen darf - aber es ist auch überfällig, dass endlich das Verfahren gegen sie komplett eingestellt wird“, sagte Roth im Radioprogramm „SWR Aktuell“. Das Thema müsse beim Staatsbesuch des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan Ende September in Deutschland angesprochen werden.

Außenminister Maas teilte in Berlin weiter mit: „Wir sehen viele Punkte in Sachen Rechtsstaatlichkeit in der Türkei weiterhin kritisch und sprechen das offen gegenüber unseren türkischen Gesprächspartnern an“. Die Entlassung Tolus wertete er trotz der Fortsetzung des Verfahrens als einen „Schritt für die Verbesserung unseres Verhältnisses zur Türkei.“

Die Entscheidung des Gerichts kommt inmitten eines Streits mit den USA wegen des in der Türkei festgehaltenen US-Pastors Andrew Brunson - und einer Serie von Annäherungsversuchen der Türkei an Europa und speziell Deutschland. Noch Ende April hatte das Istanbuler Gericht bei der Fortsetzung des Prozesses gegen Tolu entschieden, die Ausreisesperre aufrechtzuerhalten.

Im Fall Brunson hatte US-Präsident Donald Trump Sanktionen und Strafzölle gegen die Türkei verhängt, um den Pastor freizubekommen. Ankara erwiderte die Sanktionen. Das befeuerte eine Währungskrise - die Lira brach auf historische Tiefstände ein.

Die Linken-Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel sagte: „Der türkische Präsident ist wirtschaftlich und dadurch zunehmend politisch unter Druck und muss deshalb handeln.“ Es zeige, dass der Druck wirke, den die US-Regierung auf das „türkische Regime“ ausübe. „Statt Banketteinladungen sollten endlich die Waffenlieferungen, sämtliche Hermes-Bürgschaften sowie die EU-Finanzhilfen für die Türkei gestoppt werden.“

Die türkische Führung suchte zuletzt die Annäherung an Deutschland: Am Mittwoch hatte Erdogan mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) telefoniert, sein Finanzminister Berat Albayrak sprach am Donnerstag mit seinem deutschen Kollegen Olaf Scholz. Auf den Vorschlag der SPD-Chefin Andrea Nahles zu wirtschaftlicher Hilfe für die Türkei reagierte die Regierung in Berlin am Montag zurückhaltend. Die Frage deutscher Hilfen „stellt sich für die Bundesregierung aktuell nicht“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag.

Der Fall Tolu hatte, zusammen mit dem des „Welt“-Reporters Deniz Yücel und des Menschenrechtlers Peter Steudtner, die Beziehungen zu Deutschland schwer belastet. Tolu saß mehr als sieben Monate in Untersuchungshaft, zwischenzeitlich mit ihrem kleinen Sohn. Seit Dezember ist Tolu frei, durfte aber nicht ausreisen. Steudtner war rund drei Monate inhaftiert, Yücel ein Jahr. Nach ihrer Haftentlassung verließen Steudtner und Yücel die Türkei, auch ihre Prozesse gehen in Abwesenheit weiter.