Hintergrund

Schmusekurs? Der Fall Tolu und das deutsch-türkische Verhältnis

Die deutsche Journalistin Mesale Tolu.
© REUTERS/Osman Orsal

Erst loben türkische Politiker Deutschland, dann darf sogar die wegen Terrorvorwürfen angeklagte deutsche Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu ausreisen. Was will die Türkei dafür? Die Reaktionen in Berlin sind jedenfalls gedämpft.

Von Christine-Felice Röhrs und Jörg Blank, dpa

Istanbul, Berlin – Ende des Monats soll Mesale Tolu wieder in Deutschland sein. Die Aufhebung der Reisesperre ist nach der Anklage wegen Terrorvorwürfen, U-Haft und Zwangsaufenthalt in der Türkei das Ende eines Alptraums nicht nur für die junge deutsche Journalistin und ihre Familie, sondern auch für deutsche Diplomaten. Der Fall hatte, zusammen mit dem des ein Jahr lang inhaftierten Welt-Reporters Deniz Yücel und des Menschenrechtlers Peter Steudtner, die Beziehungen zur Türkei auf Eiseskälte abkühlen lassen.

Trotzdem ist nun längst nicht wieder alles in Butter zwischen der Türkei und Deutschland. Denn der Fall Tolu ist zwar ein sehr prominenter, aber doch nur einer von vielen. Natürlich freue man sich für Frau Tolu, sagte ein Sprecher des Außenministeriums in Berlin am Montag. „Aber es gibt ja noch eine ganze Reihe von anderen Haftfällen, die wir nicht aus den Augen verlieren werden, nur weil es in einem Fall positive Nachrichten gibt“. Im Ganzen sind es derzeit sieben Deutsche, die aus «politischen Gründen» in der Türkei noch in Haft sind, darunter der 73-jährige Enver Altayli, der seit einem Jahr ohne Anklageschrift in Einzelhaft sitzt.

Außerdem gehen die Festnahmen weiter. Erst vergangene Woche war wieder ein Deutscher mit türkisch-kurdischen Wurzeln in der Türkei im Knast gelandet, angeblich, weil er auf sozialen Medien Propaganda für Terrorgruppen gemacht hatte.

„Die Türkei braucht Freunde“

Der Fall Tolu zeigt wohl eher, dass sich die Interessenslage in der Türkei geändert hat. Hauptgrund: „Die Türkei braucht Freunde - und unter Umständen bald sehr konkrete wirtschaftliche Hilfestellungen“, sagt Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, der die Menschenrechtsfälle aufmerksam beobachtet. „Zum Beispiel, was die Kreditfreigaben großer internationaler Finanzorganisationen angeht.“ Denn der Streit mit den USA um Andrew Brunson, einen Pastor, den die Türkei wegen Terrorvorwürfen festhält, war in den vergangenen Wochen total entglitten. US-Sanktionen hatten Märkte und Investoren verunsichert und die türkische Währung Lira schwer abstürzen lassen. Plötzlich war die Rede vom „Wirtschaftskrieg“.

Ein unerwartetes Resultat davon war die Kehrtwende der Türkei Richtung Europa. Plötzlich darf Tolu ausreisen. Plötzlich kommt mit Taner Kilic ein türkischer Repräsentant der in London beheimateten Menschenrechtsorganisation Amnesty International frei. Plötzlich dürfen zwei griechische Soldaten aus dem Gefängnis, deren Inhaftierung das Verhältnis zwischen Griechenland und der Türkei ähnlich belastet hatte wie die Fälle Yücel, Steudtner und Tolu das deutsch-türkische.

„Geisel-Diplomatie“

Europäische Regierungen hatten während des gerade aufgehobenen zweijährigen Ausnahmezustand nach dem Putschversuch von 2016 Erdogans zunehmend „autoritären“ Kurs scharf kritisiert, was in der Türkei mit großem Ärger registriert worden war. Dazu die Inhaftierung von Deutschen, Griechen, US-Amerikanern: Eine Analyse in der Zeitschrift Foreign Policy hatte den Begriff der „Geisel-Diplomatie“ geprägt.

Nun, im Streit mit der Weltmacht USA, sind die „Geiseln“ offenbar plötzlich praktisches Faustpfand und Politik-Instrument. Ein westlicher Diplomat sagt am Montag, eine zuverlässige Annäherung an Europa sehe er da - noch - nicht - „eher ein Zweckbündnis, das so lange hält, wie es der Türkei in ihrer derzeitigen Situation hilft“.

Zurückhaltung in Berlin zu Schmeicheleien aus Ankara

Die jedenfalls setzt sehr öffentlich den Schmusekurs fort. Vergangene Woche hatte der Finanzminister und Schwiegersohn des Präsidenten, Berat Albayrak, sich für die „Äußerungen des gesunden Menschenverstandes“ aus Deutschland bedankt. Angela Merkel hatte zuvor gesagt, dass die wirtschaftliche Stabilität der Türkei für Europa wichtig sei.

Die Schmeicheleien aus Ankara höre die Kanzlerin aber mit Zurückhaltung, heißt es in Berlin. Die Bundesregierung gibt sich betont schmallippig, als es darum geht, die Aufhebung der Ausreisesperre gegen Tolu zu kommentieren. Zur Frage möglicher Wirtschaftshilfen für den Nato-Partner, die unter anderem von SPD-Chefin Andrea Nahles ins Gespräch gebracht worden waren, sagt Regierungssprecher Steffen Seibert knapp, man habe ja bereits mehrfach „das deutsche Interesse an einer wirtschaftlichen Stabilität der Türkei geäußert“. Die Frage deutscher Hilfen für die Türkei „stellt sich für die Bundesregierung aktuell nicht“.

Erdogans Ausfälle unvergessen

Der gedämpfte Ton in Richtung Ankara verwundert nicht - weder die Kanzlerin noch der Außenminister dürften die Ausfälle Erdogans vergessen haben, mit denen er erst vor wenigen Monaten die Bundesregierung überzogen hatte. Da hatte Erdogan beispielsweise von Nazi-Methoden gesprochen, weil deutsche Kommunen Wahlkampfauftritte türkischer Minister aus Sicherheitsgründen verweigert hatten.

Dennoch weiß die Kanzlerin: Will sie etwa bei einer politischen Lösung im Syrien-Konflikt weiter- und damit einer Rückkehr der syrischen Flüchtlinge in ihre Heimat näherkommen, dürfte sie auf Unterstützung aus Ankara angewiesen sein. Zumal sich Erdogan nach Kräften bemüht, eine politischen Lösung im Syrien-Krieg zu finden.

Es ist ein wesentlicher Grundsatz von Merkels Politik, sich auf Provokationen von schwierigen Verhandlungspartnern wie Trump, Putin oder eben Erdogan nicht einzulassen. Selbst auf dem Höhepunkt der Beleidigungen aus Ankara gegen sie und ihre Politik habe Merkel den Gesprächsfaden nie abreißen lassen, wird in der CDU betont. Das könnte sich nun auszahlen.

Ob der neue Schmusekurs aus Ankara nur ein Lippenbekenntnis und rein taktisch ist oder ob er konkrete positive Auswirkungen auf das deutsch-türkische Verhältnis hat, könnte sich schon Ende kommenden Monats zeigen. Am 28. und 29. September kommt Erdogan zum Staatsbesuch nach Deutschland. Dann wird er nicht nur von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit militärischen Ehren empfangen - es wird auch ein Treffen mit Merkel geben.

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