Freie Radikale - Helene Hegemanns drittes Buch „Bungalow“
Berlin (APA/dpa) - Ein Buch von Helene Hegemann kann sich anfühlen, als ob man einem Bus hinterher rennt. Ihr Roman „Bungalow“ beginnt mit e...
Berlin (APA/dpa) - Ein Buch von Helene Hegemann kann sich anfühlen, als ob man einem Bus hinterher rennt. Ihr Roman „Bungalow“ beginnt mit einer Szene, in der Erzählerin Charlie (17) beim Sex auf der Waschmaschine liegt und dann ihren Liebhaber würgt, bis dieser ohnmächtig wird. Atemlos geht es weiter. Literatur im Schleudergang, mit der es die 26-Jährige auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis geschafft hat.
Der Plagiatsskandal rückt so immer weiter nach hinten in ihrem Lebenslauf. Vielleicht wird er irgendwann nur noch eine Randnotiz sein. Rückblick: 2010, da war Hegemann 17 Jahre alt, erschien „Axolotl Roadkill“. Sex, Drogen, Techno: Alle Welt sprach über das Buch der Tochter des ehemaligen Berliner Volksbühnen-Chefdramaturgen Carl Hegemann.
Dann kam heraus: Sie hatte Passagen aus einem anderen Roman übernommen. Kopieren als Stilmittel oder Plagiat? Hegemann wurde gehypt und geschmäht. Dabei ging es ihr zufolge nur um einen Bruchteil der 200 Seiten. Sie hat sich davon freigeschrieben und -gefilmt. Erst mit einem zweiten Roman („Jage zwei Tiger“), dann mit dem vielgelobten Film „Axolotl Overkill“ mit Hauptdarstellerin Jasna Fritzi Bauer. Der bekam 2017 einen Preis beim Sundance Filmfestival.
Ihr neues Buch verbindet zwei Welten: Es spielt in einem Weltkulturerbe-Viertel mit schicken Bungalows, die inmitten von ärmlichen Mietskasernen stehen. Charlie lebt dort mit ihrer kettenrauchenden und trinkenden Mutter. Diese kommentiert vom Balkon aus die Bungalow-Oberschicht wie Szenen aus englischen Melodramen: „Mary, bereiten Sie doch bitte das Gartenzimmer vor und lassen Sie noch ein paar Fasane schießen!“
Charlie, benannt nach der Schauspielerin Charlotte Rampling, ist zwölf, als das Künstlerpaar Georg und Maria ins Viertel zieht. Sie verliebt sich, eine Projektion: „Ich war wie dieser Schwan, der sich in das Tretboot verliebt hat.“ Es passieren viele merkwürdige Dinge im Buch. Es gibt apokalyptische Szenen wie tote Tiere und Menschen, die auf schreckliche Weise ums Leben kommen. Es geht um Freundschaften, Jugend, Nachbarn, Schule, Armut, Gewalt, Sucht und Tod. Also um ganz schön viel.
Am besten ist das Buch, wenn es den Schmerz beim Heranwachsen in einer kaputten Familie schildert: wie es ist, wenn das Geld nur für Toast und Ketchup reicht oder die Mutter vom Wein auf Wodka umsteigt. Mit ihrem Schulfreund Iskender wechselt Charlie am Laptop nahtlos von „Mein kleines Pony“ zu Hardcore-Pornos. Der Vater ist in Charlies Leben nur sporadisch vorhanden.
Hegemann fängt das Sich-Alleine-Fühlen in einer kaputten Welt ein, wieder geht es um einen Teenager in Extremsituationen. Und wieder streut sie Tiermotive ein: Hamster, die von Klettergerüsten fallen gelassen werden, oder das Hündchen aus dem Internet, das aussieht wie ein Blaubeer-Muffin. Im Film „Axolotl Overkill“ watschelte schon ein Pinguin durchs Bild.
Helene Hegemann hat ohne Zweifel eine Handschrift. Besonders, wenn sie sich über die Künstlerschickeria lustig macht und die Schauspielerin ins Handy schreien lässt: „Sag denen ab, ich will keine Privatdetektivin spielen, die behindert und gleichzeitig auch noch sexy ist. Hübsch vielleicht! Aber nicht SEXY!“
Man kann in Hegemanns Büchern nach den Spuren ihrer eigenen Biografie suchen. Sie hat ihre Mutter früh verloren und zog mit 13 von Bochum zum Vater nach Berlin. Leben und Roman sind aber etwas anderes. Dass man ihren Vater Carl nicht mit den Typen aus ihren Büchern verwechseln sollte, hat sie öfter deutlich gemacht: „Er ist ungelogen ziemlich toll.“ Mit „Bungalow“ schwimmt sich Helene Hegemann weiter frei. Man kann ihre Bücher anstrengend finden, aber ihr Talent muss sie nicht mehr beweisen. Falls sie den Roman wieder selbst verfilmt: vielleicht was für die Berlinale?
(S E R V I C E - Helene Hegemann: „Bungalow“, Hanser Berlin, 240 Seiten, 23,70 Euro)